Meinung Verantwortlichkeit erledigt sich nicht mit der Zeit
Jahrzehntelang hat sich die Justiz bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Mordtaten beschämend verhalten. Selbst die Gesetzesänderung von 1979, wonach Mord und damit auch die Untaten der NS-Mörder nicht verjähren, ließ viele Nazi-Schergen unbehelligt.
Sie lebten weiter in Freiheit. Spät, viel zu spät, kam dann die Wende in der Rechtsprechung. 2011 wurde im Prozess gegen John Demjanjuk, Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, festgestellt, dass auch die Helfer als Teil einer organisierten Maschinerie des Massenmordes zur Verantwortung zu ziehen sind. Es bedarf nicht des Nachweises einer einzelnen Mordtat, wenn der Angeklagte mithalf, diese Maschinerie am Laufen zu halten. Nur durch diese geänderte Rechtsauslegung konnte es jetzt zu dem Detmolder Strafprozess gegen einen früheren SS-Wachmann von Auschwitz kommen.
Es ist schon bitter: Jahrzehntelang ließ der Rechtsstaat die Täter des Unrechtsstaats weitgehend in Frieden, um dann auf einmal deren Gehilfen zur Verantwortung zu ziehen. Nachvollziehbar, dass da von Kritikern argumentiert wird, hier erfolge ein Exempel am falschen Subjekt, um die Fehler der früheren Richtergeneration zu reparieren. Um spät, fast zu spät die Ehre des Rechtsstaats zu retten.
Doch das Versagen der Justiz in den zurückliegenden Jahrzehnten darf nicht denjenigen zum Vorteil gereichen, die sich auf eine Gleichbehandlung im Unrecht berufen. Erweisen sich die Vorwürfe in dem jetzt angelaufenen Prozess als richtig, so darf das Argument, der Angeklagte sei doch nur ein kleines Rädchen im Getriebe der Mordmaschinerie gewesen, nicht gelten. Ohne die Wachleute konnte der Massenmord nicht funktionieren. Einer der Nebenkläger formulierte es so: „Die Helfer wussten, dass Kinder, Männer und Frauen ermordet wurden, sobald sie in Auschwitz ankamen. Sie rochen das brennende Fleisch in den Krematorien. Wenn sie dort waren, waren sie Teil dieses Massenmords.“
Aber der Angeklagte ist ein Greis, das Geschehen liegt mehr als 70 Jahre zurück, wird eingewandt. Einen so alten Mann ins Gefängnis zu stecken, das gehe doch nicht. Darauf kommt es aber gar nicht an. Unabhängig davon, ob eine Strafvollstreckung möglich ist, geht es um die Aufklärung und einen möglichen Schuldspruch. Es geht um die Feststellung der Wahrheit.
Im Demjanjuk-Prozess von 2011 erklärte es ein Opfer-Anwalt so: Eine Gesellschaft muss sich ihrer Grundwerte gerade dadurch versichern, dass bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit Verantwortlichkeit nicht etwas ist, das sich mit Zeitablauf erledigt.