Michas Klasse: Die Klasse 3c und die Bundesländer auf Magnetkarten
Die Kinder haben Wurzeln in aller Welt — und sortieren ihre Heimat neu.
Burscheid. Donnerstagmorgen in der Montanusschule, erste Stunde, Sachunterricht in der Klasse 3c. Klassenlehrerin Catherine Efeoglu hat Magnetkarten auf der Tafel verteilt — alle Bundesländer, alle Hauptstädte. Jetzt geht es darum, Städte und Länder richtig zuzuordnen. „Ganz viele Erwachsene wissen das nicht“, sagt Efeoglu. „Aber wir leben in Deutschland und man muss sein Land auch kennen.“
Die Schüler der 3c kennen es ziemlich gut. Saarbrücken zum Saarland, da hilft noch die Eselsbrücke mit der Saar. Aber auch Erfurt findet zu Thüringen und Schwerin zu Mecklenburg-Vorpommern. Und an der Tafel sortiert Micha die Namen so selbstverständlich wie Latin, Tiago oder Joao. Denn das ist auch ihr Land, ihre Heimat.
Die Klasse ist inzwischen auf 25 Kinder angewachsen und in etwa halb so viele Länder verweisen ihre Familiengeschichten. In den vergangenen zwei Monaten habe ich zehn Familien besucht und mir ihren Migrationsweg nach Burscheid erzählen lassen. Die Geschichten haben mich selbst überrascht: durch ihre Bandbreite und ihre vielen Bezüge zum aktuellen Weltgeschehen.
Die Flüchtlingsdramen der Gegenwart lassen sich daran ablesen, die Nachwirkungen des Gastarbeiterbooms im deutschen Wirtschaftswunder und die Hoffnungen und Mühen eines Neuanfangs in der Fremde. Es sind Geschichten, die sowohl vom inneren Ankommen erzählen als auch von der bleibenden Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln.
Nicht jede Familie wollte mitmachen. Vielleicht, weil die Menschen sich nicht auf ihr Migrantsein festschreiben lassen möchten; vielleicht, weil sie in der neuen Heimat möglichst ihre Ruhe haben und nicht auffallen wollen; vielleicht auch, weil sie den Medien generell misstrauen. Das muss man respektieren. Manche gewiss auch spannende Geschichte ruht noch ungehoben in der Klasse 3c.
Was mir in den vergangenen zwei Monaten noch einmal besonders deutlich geworden ist: Wir müssen uns endgültig von der Verlockung verabschieden, dem Augenschein nach zu beurteilen, wer Deutscher ist und wer nicht. Die allermeisten Migrationskinder haben längst einen deutschen Pass. Sie sind keine Ausländer mehr, sie sind Deutsche.
Der Zauber jeder Kindheit ist die Chance zum Neuanfang. Die Kinder der 3c mit ihren so unterschiedlichen Herkunftsgeschichten fangen zusammen neu an. Sie können die Dramen und Wunden, das Zerrissensein und die Ängste ihrer Eltern und Großeltern hinter sich lassen. Wenn es gut geht, können sie von ihren internationalen Wurzeln zehren und zu selbstbewussten jungen Menschen in Deutschland heranwachsen.
Geht es gut? „In der Grundschule ist die Herkunft noch kein Thema“, sagt Catherine Efeoglu. „Wenn man die Kinder fragt, woher sie kommen, sagen sie nicht, aus der Türkei. Sie sagen, ich bin aus Burscheid.“ Das ändere sich erst mit der Pubertät. Da fänden plötzlich die unterschiedlichsten Migrationskinder zueinander, „weil sie sich gemeinsam darüber definieren, dass sie ausgegrenzt werden und sich als gesellschaftlich wertlos empfinden“.
Ob es so weit kommt, liegt auch an uns.