Kinderheim Ex-Heimkind hilft Kids im Düsseldorfer St. Raphael-Haus
Düsseldorf · Vor 27 Jahren wird Sascha Wenz von seiner Familie getrennt und kommt ins Kinderheim. Heute begleitet er die Bewohner des Hauses ehrenamtlich.
„Hör ma’ Junge, ich weiß, dass es immer Typen gibt, die über uns Heimkinder schlecht reden werden, aber lass dich nicht provozieren. Vor allem nicht am Arbeitsplatz, da hängt viel mehr dran, Markus (Name wurde von der Redaktion geändert)“, sagt Sascha Wenz auf dem Weg zum Fortuna-Spiel gegen Dortmund in der U78 und gestikuliert wild mit den Armen. Markus, der gegenüber von ihm im Vierer des wackelnden Wagens sitzt, hört ihm aufmerksam zu. Um ihn herum stehen die anderen Teenager der integrativen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Raphael. Sascha Wenz war einer von ihnen. Ein Heimkind. Heute – 15 Jahre nach seinem Auszug – ist der 36-Jährige glücklich verheiratet, hat einen festen Job und wird im April nächsten Jahres zum dritten Mal Vater.
Seine Jugend verbrachte Wenz im St. Raphael-Haus. Damals – nachmittags am 6. Dezember 1991 – holt ihn die Heimleitung vom Kinderhilfezentrum an der Euler Straße in Derendorf ab, bringt ihn in die Einrichtung – in einem der Hinterhöfe der Oberbilker Allee und weist ihm eine eigene Gruppe von sieben weiteren Bewohnern zu. Ab diesem Zeitpunkt verbringt er die meiste Zeit dort. Er verbringt einen typischen- Teenager-Alltag: Morgens Schule, Mittagessen, Hausaufgaben bis vier, danach Freizeit. „Vor allem gab es da ein pralles Sportprogramm: Fußball, Basketball, sogar einen Kanu-Verein, aber auch einen Musikkeller, einen Kraftraum und eine Kapelle“, sagt er und blickt zum Himmel. Kirchengänger war er nie, dennoch mussten die Bewohner bis zum 14. Lebensjahr jeden Sonntag die Gottesdienste besuchen, ein Ritual. Heute ist es keine Pflicht mehr. Aber auch Urlaube, Ferienlager und Ausflüge finden jedes Jahr statt. 1992 fährt er in den Schwarzwald, zwei Jahre später das erste Mal nach Frankreich. „Das war schon ein Luxus“, sagt Wenz. Seine größte Leidenschaft gilt aber dem Sport. Sascha Wenz spielt schon von klein auf Fußball. Das breite Sportangebot des St. Raphael Haus kommt ihm da gerade recht.
Zurück in die Gegenwart: Am frühen Abend warten die Kids am Sporthaus, rund 50 Meter entfernt vom Hauptgebäude des St. Raphael-Hauses. Zu jedem Heimspiel dürfen eine Handvoll Bewohner, vor allem die, die brav waren und keinen Stress machten. Der Sport- und Freizeitpädagoge Eike Felske vergibt bei jedem Spiel die restlichen Plätze seiner zehn Fortuna-Dauerkarten an Mitglieder und ehrenamtliche Helfer des Sportteams, die vom Erlös des Benefiz-Tennisturniers finanziert wurden. Bei den Auserwählten macht sich Vorfreude breit. Heute ist ein besonderes Spiel: Derby gegen Herbstmeister Borussia Dortmund. Sascha Wenz ist auch da, im schwarz-roten Fortuna Trikot. Er unterstützt Trainer Eike Felske im Fußballteam ehrenamtlich und lässt sich das Spitzenspiel nicht entgehen. Obwohl er Anhänger des FC Bayern ist - heute schlägt sein Herz für die Fortuna.
Als Schüler kämpft Sascha Wenz gegen Klischees über Heime
Als Schüler hat es Sascha Wenz nicht leicht. Obwohl seine Kollegen von St. Raphael oftmals sogar in der gleichen Schule oder gar in derselben Klasse waren, ist er doch ein Außenseiter: „Früher konnte ich mir oft dieses Klischee anhören, dass ein Heim ja wie ein Gefängnis sei. Mit Gittern an den Fenstern und abends wird es abgeschlossen. Ich sagte zu ihnen: ‚Leute, da irrt ihr euch’.“ Er sieht das St. Raphael Haus eher so: „Du kommst in das Heim rein, hast da einen ganz normalen Hof, einen Spielplatz mit Sportgeräten und wohnst mit der Gruppe wie in einer Fünf- oder Sechs-Zimmer-Wohnung. Mit Küche, Wohnzimmer und etlichen Kinderzimmern.“ Im Vergleich zu seinem Elternhaus gibt es im Heim lediglich mehr Disziplin, Druck und strukturierte Tagesabläufe.
„Nach der zehnten Klasse hatte ich die Wahl: weiterführende Schule oder Ausbildung“, sagt Sascha Wenz. „Im Nachhinein hätte ich gerne die Schule weiter gemacht, aber vor einem Schulwechsel mit komplett neuen Leute und eventuell wieder dummen Sprüchen hatte ich Angst und entschied mich für die Ausbildung.“ Das Angebot zum Kfz-Mechaniker hat er zu dieser Zeit schon in festen Händen. Heute arbeitet er als Lagerist: „Letztendlich ist es gut gelaufen, dennoch blicke ich manchmal zurück, was gewesen wäre, wenn ich doch den schulischen Weg gegangen wäre“ Deswegen unterstützt er nun all jene, die in St. Raphael vor ähnlichen Entscheidungen stehen.
Auch beim heutigen Ausflug zum Fortuna-Spiel gegen den BVB: In der U78 ist es brechend voll. Die alte Bahn knattert durch die Straßen. Es müffelt: Eine Mischung aus Schweiß, Rauch und Dosenbier. Trainer Eike Felske und sechs seiner Schützlinge haben Glück und einen Sitzplatz ergattert. Genau wie Sascha Wenz; er fühlt sich unwohl in vollen Zügen und ist froh, auf seinem Sitzplatz etwas verschnaufen zu können. Beim Gespräch zwischen ihm und Eike Felske geht es um die fünfte Jahreszeit. „Wie sieht’s bei dir aus dieses Jahr mit Karneval?“, fragt Eike. „Die Tradition an der Sache mag ich ja, nicht aber das teilweise unmenschliche Verhalten von den Eltern, die den anderen Kindern die Süßigkeiten aus der Hand reißen oder sie gewaltsam wegschubsen. Und dann noch ganz viele Jugendliche, die sich gefühlt ins Koma saufen“, entgegnet Sascha.
Sein Blick wandert hinüber zu den Kids: „Trinken ja, aber nur im Maß. Sonst liegst du kotzend in der Ecke und hast keinen Spaß am Karneval.“ Einer der Jungs nickt zustimmend.
Auf den oberen Stadion-Rängen beobachten die Bewohner des St. Raphael-Hauses aufmerksam das Spiel. Sie wissen, was sie dürfen und was nicht. Wenn sie sich nicht benehmen, dürfen sie nicht mehr mit. Da reicht ein klares Wort von Eike Felske oder den Ehrenamtlichen. Sascha Wenz fühlt sich in solchen Situationen wie ein großer Bruder der Kids: „Ich habe das ja ähnlich schon vor einigen Jahren erlebt und kann ihnen so vielleicht etwas fürs Leben mit auf den Weg geben.“ Er hält inne. „Gerade wenn es zum Auszug kommt, freut man sich über einen Ratschlag. Damals war ich auch froh darüber.“
Mitte zehnte Klasse war es bei Sascha Wenz soweit: Auszug aus St. Raphael, Einzug in ein eigenes kleines Apartment, vorläufig. An diesem Tag ist er 18 Jahre alt. „Ich hatte die Möglichkeit, selbstständig zu leben, und musste mich ab dem Tag auch selbst versorgen. Einkaufen, kochen, waschen“, sagt Wenz. Auf einmal fallen all die gewohnten Strukturen weg: Dienstpläne in der Gruppe, gemeinsame Aktivitäten und Unterstützung bei Behördengängen. „Wirtschaften mussten wir selbst“, sagt er. Nur die Monatsabrechnung macht er weiterhin mit einem Betreuer.
Anfangs genießt Wenz die Freiheiten. „Klar gab es da auch Regeln, zum Beispiel, wann wir abends zu Hause sein müssen oder im Bereich Sauberkeit, aber es war schon echt eine coole Zeit.“ Er schmunzelt. Auch die Besuchsregeln für seine Eltern fallen weg. „Anfangs konnte ich sie circa drei Jahre lang gar nicht sehen, bis es dann los ging mit Besuchen von ihnen. Erst einmal im Monat – für ein bis zwei Stunden, dann alle drei Wochen. Irgendwann durften sie mich an einem Tag am Wochenende auch abholen und mit mir Ausflüge machen. Abends musste ich wieder in der Einrichtung sein.“
Wenz zieht wieder ins St. Raphael- Haus zurück
Mit 19 Jahren zieht Sascha Wenz zu seinen Eltern nach Viersen. Doch schon nach kurzer Zeit fehlt ihm etwas. Die Struktur: „Ich vermisste das Apartmentleben, meine Mitbewohner und Ansprechpartner für Lebensfragen, die Termine, Berufsberatung, Ämtergänge, ich hatte immer einen da im Heim. Gerade dann, als sich meine Eltern auch noch trennten“, sagt er. Außerdem wird ihm das Pendeln zu seinem Ausbildungsbetrieb in Düsseldorf zu viel. Er zieht zurück ins St. Raphael-Haus. „Ich hatte meine Freizeit als volles Mitglied wieder, sprich morgens arbeiten, abends Fußball spielen und Kanufahren.“
Sowohl bei den Kanu-Ausflügen, Zeltlagern und Fußballspielen ist Sascha Wenz als ehrenamtlicher Unterstützer dabei. Wie auch heute beim Spiel der Fortuna gegen Borussia Dortmund: „Heute spielen sie ja wesentlich besser als letzten Samstag gegen Freiburg“, sagt er und diskutiert dabei mit Eike Felske und einem Mädchen vom St. Raphael-Haus, die offensichtlich auf einen Sieg für den BVB hofft: „Das ist so unfair“, sagt sie und wischt sich eine ihrer Strähnen aus dem Gesicht. „Nur einen Konter und schon ist die Fortuna 1:0 vorne, so gut sind die doch gar nicht.“ Aufgebracht gestikuliert sie mit den Armen. „Noch ist das ja kein endgültiges Ergebnis“, erwidert der 36-jährige Wenz und zeigt auf die Spieltafel am hinteren Ende des Spielfeldes: 44. Minute. Sein schwarz-rotes Fortuna-Trikot flattert im Wind. Ein kalter Luftzug geht durch die Reihen der Arena. Das Mädchen dreht sich in Richtung Gästeblock, ihr Daumen ragt nach oben: „In der zweiten Halbzeit werden wir es denen noch zeigen.“ Sie bleibt entschlossen. Sascha Wenz nickt ihr zu. Der Pfiff zum Ende der ersten Halbzeit ertönt. Die Fortuna-Fans erheben sich und applaudieren. Sascha Wenz trifft in der Halbzeitpause einen weiteren ehrenamtlichen, externen Bewohner – er ist privat beim Spiel – und erinnert sich zurück an die Zeit nach seinem endgültigen Auszug. Nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung mit 24 Jahren in die erste eigene Wohnung: „Der alte Sportlehrer rief öfter bei mir an und fragte mich, ob ich nicht mal aushelfen kann, und auch ich wollte trotz meines eigenständigen Lebens damit weitermachen“, sagt Sascha Wenz. „Ich hatte einen richtig guten Draht zu den meisten, gerade mit den Sportlehrern. Seinerzeit fährt er zu Turnieren mit, hilft bei Kanu-Touren und ist auch Teil des Helferteams des jährlichen Pfingstzeltlagers, bis heute. Damit ist er nicht der Einzige der Ehemaligen, aber letztendlich bricht der Großteil der Bewohner nach ihrem Auszug den Kontakt zum St. Raphael-Haus und zu den ehemaligen Mitbewohnern ab. Sascha Wenz aber pflegt die Beziehung zu manchen seiner Kollegen: „Einer meiner besten Freunde kam 1998 ins Heim, aus einer anderen Gruppe habe ich einen Kumpel, von dem ich sogar der Patenonkel des jüngsten Sohnes bin.“ Auch sie stehen mit beiden Beinen fest im Leben.
Sascha Wenz selbst sieht etliche Parallelen zwischen seinem Leben im St. Raphael-Haus: „Dadurch dass ich einer der Ruhigen war, fand ich dort zum ersten Mal durch das ganze Angebot an Entwicklungsmöglichkeiten, wie Sport oder Musik, Anerkennung und bin froh, dass man mich so gepusht hat.“ Das zeigte ihm: „Man baut auch dich, man sieht, dass aus dir etwas werden kann. Ich glaube, das hat mich so fest in dem Haus gehalten. Ich wünsche mir selbst, dass aus den Kids etwas wird, dass sie Fuß im Leben fassen und nicht auf die schiefe Bahn geraten.“ Auch wenn es bei ihm eine Zeit gab, in der er alles hasste – einschließlich das Heim und seine Regeln – ist er im Nachhinein dankbar, Teil des Heimlebens gewesen zu sein und die vielfältigen Angebote der Einrichtung bekommen zu haben: „Wenn du das mit einem Leben in einer sozial schwachen Familie vergleichst, hast du dort gelebt wie Gott in Frankreich.“