Düsseldorf Warum mobben Schüler ihre Mitschüler? „Es geht letztlich um Anerkennung“

Interview | Düsseldorf · Die Leiterin des städtischen Zentrums für Schulpsychologie in Düsseldorf und ihr Stellvertreter sprechen im Interview über Mobbinggründe – und was Eltern beachten sollten.

Anja Niebuhr, Leiterin des städtischen Zentrums für Schulpsychologie, und ihr Stellvertreter Christian Issmer sehen in ihrer täglichen Arbeit, dass Kinder und Jugendliche zurzeit besonders unter Druck stehen.

Foto: Anne Orthen

Frau Niebuhr, Herr Issmer, wieso mobben Kinder andere Kinder?

Christian Issmer: Darauf gibt es keine einfach Antwort, das Thema ist komplex. Für Mobbing kennzeichnend ist immer, dass es ein Machtungleichgewicht zwischen Tätern und Opfern gibt. Die Täter haben das Bedürfnis, Macht auszuüben. Es geht letztlich um Anerkennung und darum, andere kontrollieren zu können.

Und der Drang dazu kann aus verschiedenen Gründen entstehen?

Anja Niebuhr: Mobbing ist kein neues Phänomen. Unsere Eltern- oder Großelterngeneration hat das in der Schule auch schon erlebt, aber dann haben sie das „Drangsalieren“ genannt oder „Gucken-wer-der-Stärkere-ist“. Das Machtaushandeln ist ein zutiefst menschliches Gruppenphänomen.

Issmer: Austesten von Grenzen spielt dabei auch eine Rolle. Da wird probiert: Wie weit kann ich eigentlich gehen? Das ist ein typisches Verhalten, bei dem es auch um die Anerkennung in der Bezugsgruppe geht. Mobbing ist ein Thema, bei dem man nicht Täter und Opfer isoliert sehen darf, das findet immer in einem System statt, etwa der Schulklasse. Mobbing funktioniert auch dadurch, dass die mobbende Person ein paar Kinder um sich hat, die Verstärker sind, das toll finden, applaudieren, wenn etwas passiert. Die Täter werden dadurch angetrieben. Wenn es keine Reaktion gäbe, wäre Mobbing schnell vorbei.

Manche Eltern haben den Eindruck, dass Mobbing und auch physische Gewalt unter Schülern zunehmen.

Niebuhr: Das geben die Zahlen nicht wirklich her. Es ist aber ein Thema, das zunehmend ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Viele haben mitbekommen, dass die Corona-Zeit besonders für Kinder und Jugendliche schwierig war. Und es ist auch klar, dass Kinder und Jugendliche derzeit mehr unter Druck stehen, als in Zeiten, in denen es nicht so viele Krisen gibt. Das drückt sich vielfältig aus. Bei manchen, indem sie psychisch mehr belastet sind. Bei anderen dadurch, dass schneller Konflikte hochkochen. Es gibt viele verschiedene Ausdrucksformen – und die sehen wir im Moment.

Issmer: Es scheint so zu sein, dass es seit mehreren Jahren einen leichten Anstieg bei der Gewalt und Kriminalität unter Kindern und Jüngeren gibt. Das ist eine Entwicklung, die besorgniserregend ist. Trotzdem ist die Frage: Womit vergleiche ich das? Vor 20 Jahren gab es einen deutlichen Höhepunkt an Gewalttaten, da gab es viel mehr als jetzt. Wenn ich diesen Vergleich mache, könnte man auch sagen: Schule ist viel friedlicher als vor 20 Jahren. Was sich übrigens nicht bestätigen lässt – aber häufig vermutet wird – ist eine zunehmende Brutalität der Taten.

Inwiefern hat die ständige Präsenz sozialer Medien und die Verfügbarkeit von künstlicher Intelligenz (KI) etwas verändert?

Issmer: Bei den Themen Cybermobbing und sexualisierte Gewalt werden wir tatsächlich mehr angefragt. Dabei geht es beispielsweise um das Verschicken KI-generierter pornografischer Bilder. Generell kann man sagen, dass sich Mobbing schon immer vorhandener Methoden bedient hat. Es ist eine natürliche Entwicklung, dass auch der Cyberraum dafür genutzt wird. Tatsächlich findet da häufig eine Fortsetzung von Mobbingprozessen statt, die schon in der Schulklasse laufen. Dort werden diese Prozesse aber vielleicht noch in irgendeiner Form ausgebremst, zum Beispiel durch Mitschüler. Dadurch kommt die mobbende Person nicht mehr weiter. Im Internet ist das leichter. Es gibt deutlich weniger soziale Kontrolle.

Was bedeutet das für Betroffene?

Issmer: Wenn wir vom „klassischen Mobbing“ ausgehen, bei dem etwas in der Schule passiert, können sich die Kinder wenigstens sagen: In der Schule halte ich das aus, und wenn ich zu Hause bin, kriege ich davon nichts mehr mit, da ist mein Schutzraum. Das ist schlimm genug, aber wenn ich das nicht mal mehr habe, sondern mich das rund um die Uhr erreichen kann, dann verstärkt dies den Druck. Die Allgegenwärtigkeit stärkt die Belastung. So lange ich mein Smartphone bei mir trage, kann ich damit belastet sein. Es gibt überhaupt keine Möglichkeit mehr, dem Ganzen zu entgehen – und das macht es heftiger.

Was kann Mobbing für langfristige Folgen für Betroffene haben?

Niebuhr: Es kommt auf die konkrete Situation an. Aber wenn Kinder und Jugendliche wirklich eine absolute Hilflosigkeit erleben, weil sich keiner um sie kümmert, dann kann das nachhaltige Konsequenzen haben. Der Selbstwert wird beschädigt. Das kann eine Lebenserfahrung sein: Ich komme immer in schwierige Situationen und kann mir dann nicht helfen.

Issmer: Das reicht bis zu psychischen Erkrankungen, die sich manifestieren oder zumindest durch solche Erfahrungen angetrieben werden.

Kinder und Jugendliche erzählen ihren Eltern nicht alles. Gibt es eine Möglichkeit, zu erkennen, dass das eigene Kind gemobbt wird?

Issmer: Es gibt nicht die eine Auswirkung von Mobbing, wo man sagen kann: Wenn Sie das bei Ihrem Kind sehen, wird es gemobbt. Es kann Verhaltensänderungen geben, emotionale Änderungen, Niedergeschlagenheit. Dass das Kind nicht mehr zur Schule oder in bestimmte Situationen gehen möchte, kann auch ein erster Hinweis sein. Muss es aber nicht. Wichtig ist, immer wieder das Gespräch zu suchen, nah an den Kindern zu sein, sie nach ihren Erfahrungen zu fragen.

Und was können Eltern tun, wenn das eigene Kind betroffen ist?

Issmer: Das muss immer im Einzelfall bewertet werden: Was braucht das Kind? Was brauchen die Eltern? Es gibt Studien und Erfahrungen, die zeigen, dass Kinder sich schwer tun, ihre Eltern einzubeziehen, teilweise auch aus der Angst, dass diese alles schlimmer machen. Wenn Eltern mit wehenden Fahnen in die „Schlacht“ ziehen und das klären wollen, kann es tatsächlich schlimmer werden. Wichtig ist, einen kühlen Kopf zu bewahren, die Situation mit dem Kind zu besprechen sowie mit der Schule und Lehrkräften. Auf jeden Fall sollte das Kind eingebunden sein. Es gibt Konzepte, wie das in der Klasse geklärt werden kann. Das Vorgehen sollte geplant sein und nicht von Eltern mit heißer Nadel gestrickt.

Kurzschlussreaktionen sollten also auf jeden Fall vermieden werden?

Niebuhr: Genau. Eltern sind nicht diejenigen, die die Situation in der Schule verändern können. Ihre Aufgabe ist es, für das betroffene Kind da zu sein – und nicht, in der Schule die Situation zu klären.

Das ist für manche Eltern sicher schwierig.

Niebuhr: Das ist schwierig. Elternsein ist nicht einfach! Wir haben aber inzwischen ein Phänomen, dass Eltern in den Schulen als starke Anwälte für ihre Kinder auftreten und bei herausfordernden Situationen sofort bei der Schulleitung sitzen. Da das korrekte Maß zu halten, ist herausfordernd. Der erste Schritt für mich wäre, mit dem Kind gemeinsam zu überlegen: Was kannst du selbst tun? Und nicht gleich hinauszurennen, und die Situation regeln zu wollen. Erst wenn sich herausstellt, dass das Kind wirklich in einer hilflosen Situation landet und man mit den gemeinsamen Überlegungen nicht weiter kommt, dann gehe ich zur Schulleitung oder auf die Lehrkräfte zu.

Issmer: Das wichtige Stichwort ist Partizipation: das Kind einbinden, nicht über seinen Kopf hinweg entscheiden.

(pze)