Hilden: „Alles wurde tot geschwiegen“
Zeitzeugen erinnern sich an die Vorfälle in der Pogromnacht vom 9. November 1938.
Hilden. Die Schüsse, die in der Pogromnacht vor 70 Jahren auf Eugenie Willner und ihren Sohn Ernst abgegeben wurden, hat Heinrich Kirberg nicht gehört. "Ich lag schon im Bett und habe geschlafen", erinnert sich der heute 84-Jährige an die schrecklichen Vorfälle, die sich in jener Nacht an der Benrather Straße32 - nur wenige Meter neben seinem Elternhaus - ereignet hatten.
"Man kann davon ausgehen, dass wohl die ganze Stadt mitbekommen hat, was in dieser Nacht in Hilden passiert ist." Anita Ellsiepen sagt dies mit fester Stimme, und doch merkt man ihr an, wie bewegt sie ist. Die gebürtige Hildenerin ist drei Jahre nach der Pogromnacht zur Welt gekommen. Seit einigen Jahren erforscht sie mit dem Arbeitskreis Stolpersteine die Geschichte der damals 58 Hildener Juden und deren Schicksal im Dritten Reich.
Kirberg: "Aber ich habe den Krach gehört, als die Mörderbande in das Haus eingedrungen ist. Wir sind auf die Straße gelaufen. Da standen schon viele Nachbarn und haben zugeschaut. Niemand hat etwas unternommen. Wir wurden von der SA aufgefordert, wieder in unsere Häuser zu gehen. Das haben wir natürlich gemacht. Sonst wären wir selbst in die Sache hineingezogen worden. Mein Vater war 1934 als Gewerkschafter wegen ,Vorbereitung zum Hochverrat’ zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden."
Ellsiepen: "Die Geschehnisse der Nacht waren unglaublich einschüchternd. Vor den Augen der Bevölkerung waren Feinde des Nazi-Regimes misshandelt und ermordet worden. Und niemand wurde für diese Taten bestraft oder zur Rechenschaft gezogen. Es war einfach geschehen, ohne dass von irgendeiner Seite Hilfe kam. Dabei muss man bedenken, dass auch diese Menschen eine Familie hatten, die sie schützen wollten."
Kirberg: "Am nächsten Morgen habe ich auf dem Weg zur Schule die ganzen Verwüstungen gesehen. Überall habe ich zerschlagene Fensterscheiben gesehen, Möbel lagen zertrümmert auf der Straße. Mit meinen Eltern konnte ich heimlich darüber sprechen, aber in der Schule wurde alles tot geschwiegen."
Ellsiepen: "Es wurden ja nicht nur diejenigen verfolgt, die sich öffentlich gegen das Nazi-Regime stellten, sondern auch deren Familien. Das erklärt die Angst der Menschen. Viel zu lange ist über dieses Thema nicht gesprochen worden. Scham, Verdrängung und der Wunsch, mit diesem dunklen Kapitel der Hildener Geschichte abzuschließen, mögen der Grund dafür sein. Wir haben versucht, Ellen Wiederhold auf das Thema anzusprechen, aber da kam gar nichts. Ganz anders reagierte Günter Scheib. In seiner Amtszeit als Bürgermeister begann erstmals eine ausführliche und bewusste Aufarbeitung."
Kirberg: "Öffentlich hat niemand über die Vorfälle gesprochen. Das war nur zu Hause in der Familie möglich. Da haben wir immer von ,Mörderbande’ gesprochen."
Ellsiepen: "Der Druck muss unheimlich groß gewesen sein", vermutet Ellsiepen. "Ärzte wurden gezwungen, falsche Totenscheine auszustellen oder Verletzungen zu behandeln, von denen sie wissen mussten, dass sie den Verletzten durch Gewalt zugefügt wurden. Laut dem damaligen Polizeibericht gab es aber keine besonderen Vorkommnisse zu melden. Auch in den Kirchenbüchern werden die Taten in der Pogromnacht mit keinem Wort erwähnt."