„Man in Black“ der Literaten

Der Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino las aus seinen beiden neuen Romanen auf Gut Selikum in Neuss.

Rhein-Kreis Neuss. Wer wissen möchte, mit welchem Buch Wilhelm Genazino berühmt wurde, der muss wahrscheinlich eher "Abschaffel" lesen. Mit seinen beiden neuen Romanen "Mittelmäßiges Heimweh" und "Die Liebesblödigkeit" ist das anhaltende Kritikerlob - 2004 erhielt Genazino den Georg-Büchner-Preis, 2007 wurde er mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet - jedenfalls nur schwer zu erklären.

Aus beiden Romanen hat der in Mannheim geborene 65-jährige Literat am Freitag für ausgewählte Gäste im Rahmen von "Kunst auf Selikum" gelesen.

Im Gespräch gab Genazino an, in seinem neuen Romanen "moderne Menschen mit Schlagseite" zu zeichnen. In der gelesenen Episode aus "Mittelmäßiges Heimweh" etwa ist es der ohramputierte Finanzdirektor Dieter Rotmund, der sich von seiner Arbeitskollegin Frau Grünewald in bisweilen heftigen erotischen Beobachtungen angeregt fühlt.

In dem Ausschnitt aus "Liebesblödigkeit" hingegen sieht sich ein polygamer "Apokalypse-Spezialist" von einem Heiratsantrag einer seiner Geliebten zum "Umsturz des Denkens" genötigt.

Die Erzählperspektive beider Romane ist radikal auf den Reflexionsfluss des jeweiligen Protagonisten bezogen. In "Liebesblödigkeit" wird sie als Abfolge "abwesend versonnener Zustände" beschrieben.

Beide Erzähler mögen sich unabhängig fühlen, unabhängig denkende Subjekte sind sie nicht. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch Genazinos artifizielle Lesekunst.

Mit hochgezogenen Brauen, die Stirn in Falten und halbgeschlossenen Liedern, scheint ihn die Lektüre seiner Bücher geradezu zu langweilen.

Die "zarte Übeschätzung", die die Protagonisten beider Bücher in ihren Reflexionen an Tag legen und die auch in den hohen Obertönen seiner Lesestimme mitklingt, ist für Genazino ein Ausdruck der "Verlogenheit" und "Häme der Zeit", in der seine Romane spielen.

Deutlichster Ausdruck dieser Überschätzung ist die Verachtung jedweder Pop(ulär)kultur. So ist etwa für Rotmund das "Gebrüll der EM-Fußballzuschauer" nur "unansehnlich".

Und der Protagonisten in "Liebesblödigkeit" zeigt sich angesichts der Offenbarung seiner Geliebten als "Freizeitkünstlerin" nur peinlich berührt.

Im anschließenden Publikumsgespräch präsentierte sich Genazino als Literat einer existenzialistischen Hochkultur, der am Tag nicht mehr als zehn Seiten schreibt.

In Bezug auf seine Arbeitsweise bezeichnete er sich selbst als "ganz altmodischen und konservativen Menschen". Beim distanzierten Zuhörer verfestigte sich so der Eindruck, als sei für ihn die Rolle des "Man in Black" mit schwarzem Hemd und Jacket wie für seinen Romancharakter in "Liebesblödigkeit" nur ein "Intellektuellenspiel", ein "nicht ganz sauberer Tick".