Gastbeitrag Wuppertalerin berichtet von ihrer Kindheit an der Hünefeldstraße während des 2. Weltkriegs
Wuppertal · Zu viert teilte sich ihre Familie ein Zimmer in Barmen.
Die Hünefeldstraße in Wuppertal ist keine spektakuläre Straße und als Ost-Westverbindung von sekundärer Bedeutung zwischen Barmen und Elberfeld. Sie dient als Entlastung der Friedrich-Engels-Allee in westlicher Richtung. Es gibt einige Altbauten und historische Gebäude, wie das alte Krankenhausgebäude, im Volksmund genannt „Knochenmühle“, das „Klösterchen“ und die Villa Gerda, gegenüber der Herz-Jesu-Kirche. Die Straße scheint weitgehend vom Bombenhagel des Krieges verschont geblieben zu sein. Davon zeugt eine Reihe schöner Altbauten, von wenigen neueren Gebäuden unterbrochen.
Für mich und meine Familie hat diese Straße eine besondere Bedeutung, da ich die ersten neun Jahre meines Lebens mit meinen Eltern und meinem ein Jahr jüngeren Bruder dort verbracht habe, und zwar in ganz besonderer Weise. Heute kann man es sich nicht mehr vorstellen: vier Personen auf einem Zimmer!
Mein Vater kam 1944 am „D-Day“ in Le Havre in englische Gefangenschaft, und nach seiner Freilassung 1945 konnte er nicht mehr in seine Heimatstadt Breslau zurückkehren, da Schlesien nun polnisch geworden war. Seine alte, alleinstehende Mutter ist nach Halle/Saale geflohen. Aber mein Vater wollte nicht in den Ostsektor, und er hatte Glück.
Damals im Krieg und in der Nachkriegszeit gab es rege Korrespondenzen zwischen Soldaten, Kriegsgefangenen, deutschen Frauen und Mädchen. Eine davon war eine junge Wuppertalerin, die mit meinem Vater in engem Briefkontakt stand und ihm schließlich anbot, nach Wuppertal zu kommen. Ihre Tante könnte ihm zur Untermiete ein leeres Zimmer in der Hünefeldstraße anbieten. Das war in der damaligen Zeit ein großes Glück, da es kaum ausreichenden Wohnraum nach der Zerstörung im Krieg gab. Hinzu kamen noch die Ströme von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus dem Osten Deutschlands. So nahm mein Vater das Angebot sehr gerne an und kam 1946 nach Wuppertal.
Dieses Zimmer hatte einen separaten Eingang vom Treppenhaus aus, aber es hatte keinen Flur oder Vorraum, man kam direkt ins Zimmer. Nach meiner Erinnerung muss es circa 20 bis 25 Quadratmeter groß gewesen sein. Es lag in der ersten Etage und hatte zwei Fenster zur Straße hin. Als mein Vater einzog, hatte er nur ein paar persönliche Sachen und schlief in dem leeren Zimmer auf einem Strohsack, wie er erzählte.
Die Toilette war eine Treppe tiefer und wurde noch von zwei anderen Familien auf der Etage benutzt. Einen Wasseranschluss gab es in dem Zimmer nicht. Man musste mit Eimer, Schüssel oder Kanne eine Treppe höher steigen, wenn man Wasser zum Waschen, Kochen und Putzen benötigte. Dort gab es einen Wasserhahn mit kaltem Wasser und ein Becken aus Emaille.
1948 lernte Papa meine Mutter kennen, eine Wuppertalerin. Papa war schon 39 Jahre alt und wollte endlich eine Familie gründen. Mama war 17 Jahre jünger und wollte ebenfalls eine eigene Familie haben. Da so viele junge Männer im Krieg gefallen waren, war sie froh, einen gesunden, unversehrten Mann gefunden zu haben, der das gleiche Lebenskonzept hatte wie sie. Schon nach sechs Wochen haben sie geheiratet, ein Jahr später kam ich und noch ein Jahr später mein Bruder zur Welt.
Mama ist mit auf das Zimmer in die Hünefeldstraße gezogen. Sie bekamen das meiste an Mobiliar und Hausrat von Verwandten und der Kirche geschenkt. Wenn man das Zimmer betrat, war auf der linken Seite neben der Eingangstür ein großer vernickelter Küchenherd. Er diente uns als Wärmequelle in der kalten Jahreszeit und als Kochstelle. Er wurde mit Kohle und Briketts beheizt und blieb von Herbst bis Frühjahr in Betrieb. Er verbreitete eine gemütliche Wärme, die man aber nicht so wie eine Zentralheizung regulieren konnte. Auf dem Herd summte ständig der Wasserkessel für warmes Wasser. Im Sommer kochte meine Mutter auf einem elektrischen Kocher mit zwei Platten für zwei Kochtöpfe. Deshalb gab es bei uns häufig Gemüseeintöpfe und Suppen.
Tasten, die wie
Klavierseiten aussahen
Auf der linken Wandseite des Zimmers befand sich das „Allerheiligste“ meines Vaters, ein großes Röhrenradio aus poliertem Holz. Oben war es mit Stoff bespannt, darunter war ein Glasteil mit ganz vielen Städtenamen aus dem In- und Ausland. Papa musste mir immer die Städte vorlesen, als ich noch nicht selbst lesen konnte. Am besten gefielen mir Hilversum in Holland und Beromünster in der Schweiz. Rechts und links befanden sich zwei große Drehknöpfe, links für die Lautstärke und rechts für die Sender. Unten befanden sich einige Tasten, die wie Klaviertasten aussahen. Damit konnte man die „Wellen“ wie Kurzwelle, lange Welle oder UKW-Ultrakurzwelle einstellen. Wenn das Radio eingeschaltet war, leuchtete auf der linken Seite oben ein grünes Auge. Eine Stehlampe mit integriertem Holztischchen und zwei kleinen Sesseln rundeten das „Wohnzimmer“ meiner Eltern ab. Dort saßen sie abends gemeinsam, hörten leise Radio und lasen, wenn wir Kinder schliefen.
Unsere Schlafecke wurde durch ein Küchenbüffet und einen Kleiderschrank verdeckt. Dahinter stand in der Ecke das Gitterbett meines Bruders, an der Längswand mein Kinderbett und die Betten meiner Eltern. Damit wir durch das Licht der Lampe nicht zu sehr gestört wurden, spannte Papa eine Leine durch das Zimmer, über die ein größeres Tuch oder Laken gehängt wurde. Ich war ein lebhaftes Kind und konnte nicht gut im Hellen schlafen, sodass ich abends ein Tuch über die Augen gebunden bekam. Noch heute schlafe ich mit Augenbinde!
In der Mitte des Raumes, unter der Deckenlampe, stand ein quadratischer Holztisch mit vier Stühlen. Ihn zierte eine abwaschbare Wachstuchdecke. An diesem Tisch aßen wir alle unsere Mahlzeiten. Mama bereitete dort unser Mittagessen vor, und nach dem Essen kam eine große Emaille-Schüssel auf den Tisch und es wurde gespült. Das schmutzige Spülwasser kam in einen Eimer und wurde für Toilettengänge benutzt.
An diesem Tisch habe ich meine ersten Hausaufgaben erledigt, und auch mein Bruder schrieb schon eifrig mit, sodass er, als er ein Jahr später in die Schule kam, schon fast den gesamten Stoff beherrschte und ein ausgezeichneter Schüler war. Ich als Linkshänderin musste mich mühselig auf rechts umstellen, da man damals der Meinung war, dass man nur mit der rechten Hand schreiben könne. Papa hat wochenlang mit mir geübt, bis ich es einigermaßen konnte. Aber in Schönschreiben war ich nie eine Leuchte.
Wenn wir Besuch bekamen, mussten wir Kinder die Hand geben, und man sagte mir ständig „gib mal das schöne Händchen“, oft mit einem Klaps auf meine Linke verbunden. Das hat mich immer geärgert und gekränkt, sodass ich bockig wurde, und niemandem mehr, weder die schöne noch die andere Hand geben wollte.