100 Jahre Frauenwahlrecht Warum das eigentliche Ziel noch immer nicht erreicht ist

Meinung | Berlin · Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist inzwischen gesellschaftlicher Grundkonsens. Wenn es allerdings konkret wird, verträgt sich die Praxis zuweilen schlecht mit dem guten Vorsatz. Ein Kommentar.

Andrea Nahles (2.v.l), Vorsitzende der SPD, und Katja Mast (l, SPD) machen vor der Feierstunde des Deutschen Bundestages zum 100. Jahrestag der Einführung des Frauenwahlrechtes ein Selfie-Foto.

Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Heute auf den Tag genau vor einhundert Jahren durften Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen gehen und sich selbst zur Wahl stellen. Seitdem hat sich viel verändert. Wer heute ernsthaft auf die Idee käme, den Frauen dieses Grundrecht abzusprechen, würde entweder belächelt oder für verrückt erklärt werden. Ja, die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist inzwischen gesellschaftlicher Grundkonsens. Wenn es allerdings konkret wird, verträgt sich die Praxis zuweilen schlecht mit dem guten Vorsatz.

Es ist gerade einmal zwei Jahrzehnte her, als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, bekanntlich ein SPD-Mann, den sperrigen Namen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend öffentlich mit „Ministerium für Familie und Gedöns“ übersetzte. Das entsprach einem westdeutschen Zeitgeist, in dem Betriebskindergärten oder Ganztagsschulen kaum vorkamen und die (wenigen) Frauen bemitleidet wurden, die einer Arbeit nachgingen. Der heute allgegenwärtige Anspruch auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf fristete ein Schattendasein. Derlei Tatsachen sind übrigens auch ein Teil der Erklärung, warum sich Ost und West bis heute mitunter fremd sind. Die DDR ist an vielen Problemen zugrunde gegangen, aber sicher nicht am Mangel einer beschäftigungsorientierten Familienpolitik.

Inzwischen zählt die Frauenerwerbsquote in ganz Deutschland zu den höchsten in Europa. Allerdings handelt es sich vorwiegend um Teilzeitjobs. Und Männer kümmern sich deutlich stärker um den Nachwuchs als früher. Das Bild vom Kinderwagen schiebenden Vater ist längst Alltag. Doch wegen der Familienarbeit stecken Mütter immer noch deutlich häufiger bei einer beruflichen Karriere zurück. Auf diese Weise bleiben nicht nur die allermeisten Vorstandsetagen großer Unternehmen eine Männerdomäne. Auch in der Politik ist Mann stark überrepräsentiert. Nicht einmal jeder dritte Abgeordnete im Bundestag ist weiblich. Sicher, zuletzt, hat die AfD diesen Anteil gedrückt. Aber von einem paritätischen Geschlechterverhältnis – 51 Prozent der Bevölkerung sind übrigens Frauen - war das Parlament auch schon vor der letzten Wahl weit entfernt.

Stefan Vetter.

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Man kann Regelungen, die das das ändern sollen, als Quotenwahn abtun. Als Ausdruck einer mangelnden weiblichen Durchsetzungsfähigkeit. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich auf freiwilliger Basis in Betrieben und Institution kaum etwas zum Besseren gewendet hat. Also braucht es Druck. Und der geht auch mit kreativen Ideen. So kommt aus der SPD der Vorschlag, im Rahmen einer ohnehin überfälligen Wahlrechtsreform die Zahl der Wahlkreise zu verringern, im Gegenzug aber jeweils zwei Direktkandidaten zu bestimmen – einen Mann und eine Frau. Warum eigentlich nicht? Jedenfalls ist der Vorschlag ein interessanter Ansatz, um Frauen mehr politische Präsenz zu verschaffen. Wer ihn sofort verwirft, sollte einen anderen formulieren.

Das vor einhundert Jahren erkämpfte Frauenwahlrecht ist Alltag. Das eigentliche Ziel, Gleichberechtigung, aber wird noch immer nicht erreicht.