Meinung Das Misstrauen siegt
Der böse Bube besiegt den strahlenden Helden: Es ist ein bisschen simpel, aber verlockend, den WM-Triumph des US-Amerikaners Justin Gatlin über den jamaikanischen Superstar Usain Bolt im 100-Meter-Finale von London als einen Erfolg des Bösen über das Gute zu deuten.
Die Rollen waren schon vor dem Final-Spektakel klar verteilt. Hier Bolt, der fröhlich-extrovertierte Publikumsliebling ohne Doping-Vergangenheit — dort Gatlin, der zweifach überführte Dopingsünder, der sich dennoch einer lebenslangen Sperre entziehen konnte. Also wurde Gatlin in London gnadenlos ausgebuht und Bolt von den Zehntausenden im Stadion gefeiert.
Der Sport lebt nicht zuletzt von seinen Heldenmythen. Und Bolt war mehr als ein Jahrzehnt der hell leuchtende Stern am Leichtathletik-Himmel, der unbesiegbar schien. Und unantastbar: Bolt ist der einzige der zehn schnellsten 100-Meter-Sprinter aller Zeiten, dem niemals die Einnahme verbotener Substanzen nachgewiesen wurde. Die Annahme, dass er auch als einziger wirklich sauber geblieben ist, möchte man gerne glauben.
Leider ist Jamaika bisher nicht durch vorbildlichen Anti-Dopingkampf aufgefallen. Und wenn Proben doch mal positiv ausfielen wie in einigen Nachtests acht Jahre nach den Olympischen Spielen von Peking 2008, wurden die Fälle auch vom Internationalen Olympischen Komitee unter den Teppich gekehrt.
Bolt hat sich in London als fairer Sportsmann erwiesen, hat Gatlin vor aller Augen gratuliert. Und dass der Unbezwungene in seinem letzten Einzelrennen doch noch bezwungen wurde, schmälert seinen Ruhm keineswegs. Aber erst in den nächsten Jahren wird sich erweisen, ob Bolt wirklich ein fairer Sportsmann gewesen ist. Erst wenn die verbesserten Nachtests seiner Dopingproben keine positiven Ergebnisse zutage fördern, kann man dem Mythos Bolt wirklich Glauben schenken. Dieses Misstrauen hat sich die Leichtathletik in den vergangenen Jahren leider verdient.