Die offenen Rechnungen unserer Geschichte

Wieder einmal holt uns die Geschichte ein, und wieder einmal finden wir uns gefangen in einem Dickicht legitimer politischer Interessen, guter juristischer Argumente und einer moralischen Verantwortung, der wir letztlich auch nicht mit Verweis auf eine weitgehend anerkannte völkerrechtliche Norm entfliehen können.

Wir glaubten, durch eine Reihe zwischenstaatlicher Vereinbarungen die Folgen der deutschen Verbrechen "geregelt" zu haben. Und es gab und gibt sehr gute Argumente, die Entschädigung der Opfer nicht zum Gegenstand individueller Aufrechnung zu machen, sondern mit Staaten und Verbänden sozusagen kollektiv zu lösen.

Doch nicht allen Opfern wurde damit Gerechtigkeit zuteil. Und der Eindruck, vor allem bei Griechen, Italienern oder Russen, es gebe in deutschen Augen Nazi-Opfer unterschiedlichen Gewichts, findet in der Realität ja durchaus genügend Anhaltspunkte. Viele Jahre führte die Bundesregierung gegen die Überlebenden des SS-Massakers im griechischen Dorf Distomo einen kühl kalkulierten Rechtsstreit, gestützt auf Paragraphen und Völkerrecht. Als sie ihn in Griechenland verlor, konnte politischer Druck auf die Regierung in Athen die Vollstreckung des Urteils verhindern. Was - nebenbei bemerkt - kein gutes Licht darauf wirft, wie ernst Deutschland die Unabhängigkeit einer Justiz nimmt, wenn deren Entscheidungen unangenehm sind.

Die jetzige Entscheidung in Rom, wonach die griechischen SS-Opfer ihre Entschädigungsansprüche auch in Italien durchsetzen können, mag unter Juristen durchaus strittig sein. Aber allein die Vorstellung, ein deutsches Kulturinstitut könne vor aller Augen zwangsversteigert werden, um die Ansprüche der Opfer zu begleichen, fügt der schweren moralischen Schuld noch die Peinlichkeit demonstrativer öffentlicher Demütigung hinzu. Dazu sollten und können wir es nicht kommen lassen.

Es ist ein wohl unlösbares Dilemma: Die Überlebenden präsentieren uns die offenen Rechnungen der Geschichte - und wir antworten mit Begriffen wie "Staatenimmunität" und "internationaler Vertrag". Wir sehen uns im Recht - und setzen uns damit zugleich ins Unrecht. Nur zur Erinnerung: Die Überlebenden von Distomo fordern 28 Millionen Euro. Seit vielen Jahren.