Ein Wahlboykott ist die schlechteste Lösung
Die eindeutige Positionierung der Parteien ist Vergangenheit
Es begab sich im Jahre 1972, es war Bundestagswahl — und fast alle gingen hin. Am Ende lag die Wahlbeteiligung bei 91,1 Prozent. Ein Märchen aus alten Zeiten? Fast scheint es so. Heutzutage wären schon 75 Prozent ein Ergebnis, das die Politik zu Begeisterungsstürmen hinreißen würde. Die Realität dürfte am Sonntagabend leider wieder ernüchternd sein. Aber ist der Bürger wirklich so träge und uninteressiert geworden, wie es die Wahlbeteiligungen spiegeln? Nein, das ist er nicht.
Doch das politische Geschäft erweist sich immer mehr als eine abgeschottete Welt, in der die Kluft zwischen Entscheidungsträgern und Gesellschaft größer wird. Der Wähler wird das dumme Gefühl nicht los, dass die Parteien keine tragfähigen, über die nächste Legislaturperiode hinausgehenden Konzepte mehr haben. Stattdessen überwiegt die Ohnmacht — sei es in der Euro-Schuldenkrise, bei der globalen digitalen Datenabschöpfung oder wenn es um die Zukunft unserer Sozialsysteme und den Abbau des riesigen Schuldenberges geht, den Deutschland nachfolgenden Generationen hinterlässt. Themen gibt es genug.
Dennoch suchen wir in unserer Republik vergebens die ideologischen Schlachten von einst, die eindeutige Positionierung und den Streit um die beste Lösung. Eine fatale Entwicklung, die Bundespräsident Joachim Gauck treffend auf den Punkt bringt: „Wer heute auf Klarheit verzichtet, schafft Nichtwähler von morgen.“ Diese Nichtwähler, das sind nicht mehr nur die Abgehängten der Gesellschaft, die sich sowieso abgekoppelt fühlen von allen Entscheidungen. Das ist zunehmend auch der enttäuschte Bildungsbürger.
Trotzdem ist ein Wahlboykott die schlechteste aller Lösungen. Denn die Wahl zu haben ist ein Privileg, für das die Menschen anderswo auf der Welt kämpfen. Für das sie sogar ihr Leben lassen. Auch wenn es nicht zu einem Rekordergebnis reichen wird: Mit jedem Prozent mehr geben wir den Politikern einen Vorschuss auf die Arbeit, die sie für uns erbringen wollen. Gehen wir also zur Wahl!