Willich: Schüler werden zu Tätern
Wenn Mobbing und Gefühlskälte in Klassen normal sind, kann Therapeutin Ulrike Garstman helfen.
Willich. Wie konnte das nur passieren? Hilflos wird nach dem Amoklauf an der Realschule in Winnenden, bei dem der 17-jährige Tim K. 15 Menschen und sich selbst erschossen hat, diese Frage gestellt.
"Der Vater hat seine Waffe nicht weggeschlossen." "Tim war ein Fan brutaler Killerspiele." Solche Antworten scheinen das Unfassbare erklärbar zu machen. Doch Familientherapeutin Ulrike Garstman warnt davor, es sich so einfach zu machen. "An den Schulen gibt es ganz viele depressive, kreuzunglückliche Schüler", sagt sie. Und weiter: "Zum Glück gibt es nur selten Amokläufe."
Mobbing und Gefühlskälte sind nach der Erfahrung von Garstman in den Klassen an der Tagesordnung - auch in Willich. "In der Grundschule geht’s schon los."
Seit Herbst 2008 bietet sie deshalb im Auftrag des örtlichen Kinderschutzbundes ein "Schul-Coaching" an. Angestoßen worden war das Projekt von Vorstandsmitglied Gudrun Schöniger, die von einer Klasse gehört hatte, wo es "brennt".
"Eh, was hast Du für Scheiß-Klamotten an?" Wer jeden Tag solche Sätze hört, wer ausgegrenzt wird, keine Freunde findet, geschlagen oder in der Sportumkleide gedemütigt wird, für den ist es bis zu Depressionen oder gar Selbstmord-Gedanken nur ein kleiner Schritt. "Um nicht selbst zum Opfer zu werden, schließen sich deshalb viele Jugendliche den Tätern an", erklärt Garstman.
Beim Coaching werden solche Zusammenhänge aufgedeckt und es wird geklärt, wie man sich als Opfer fühlt. "Welche Verantwortung habe ich selbst für das Klassenklima?" Diese Frage sollte sich dann irgendwann jeder Schüler stellen. Bis es soweit ist, muss die Therapeutin oft harte Arbeit leisten. "Als ich zum ersten Mal in eine 9. Klasse kam, erwarteten mich 28 versteinerte Mienen."
Das Coaching braucht Zeit - vier bis sechs Monate sind vorgesehen. Die Themen richten sich nach der Problematik, die in der Klasse herrscht - im Fall der 9. Klasse war es Mobbing. Eltern und Lehrer werden eingebunden, denn auch dort sind Ursachen für aggressives Handeln zu finden.
"Ich rede schon seit Jahren nicht mehr mit meiner Mutter" - diesen Satz bekam Garstman von einem Schüler zu hören, den sie in der Therapiestunde gefragt hatte, ob er daheim von seinen Problemen erzähle.
Hier sieht Ralf-Hasso Sagner, Vorsitzender des Kinderschutzbundes in Willich, den Ansatzpunkt für weitere Angebote. "Moderierte Elternabende würden wir gerne unterstützen, Fachkompetenz von außen rein bringen."
Das Schul-Coaching selbst würde er am liebsten zum Pflichtfach machen. "Am besten in der fünften Klasse", ergänzt Garstman, denn dann seien die Kinder noch offener für ihre Arbeit. Dass dies alles viel Geld kostet, ist beiden klar. "Aber es ist sicher besser, Menschen statt Banken zu retten", so Sagner.