Amoklauf: Die Unkultur der Verantwortungslosigkeit
Natürlich wird nun wieder nach Instrumenten gesucht, Amokläufe zu verhindern: eine schärfere Kontrolle des Waffenrechts, Verbote elektronischer Spiele, die aufs Töten konditionieren, mehr Psychologen für die Schulen bis zur elektronisch überwachten Eingangskontrolle zu den Schulhöfen.
So verständlich diese Rufe nach juristischen und technischen Hilfsmitteln sind, so sehr sind sie Ausdruck unserer Hilflosigkeit. Der Hilflosigkeit, depressive Verlierer ausfindig zu machen, die sich so abgekapselt haben, dass sie zu Zeitbomben werden.
Von diesem kollektiven Versagen kann sich niemand freisprechen. Das zeigt auch wieder der Fall Tim Kretschmer: Der 17-Jährige nahm therapeutische Hilfe nicht an, obwohl seine Familie wusste, wie dringend er sie brauchte. Und auch er kündigte seine monströse Rache an der Welt in einem Chatroom an, was niemand seiner Mitdiskutanten ernst nahm. Verdrängen und Wegschauen sind zwar keine neuartigen Schwächen der menschlichen Psyche. In einer Zeit der Anonymisierung der Kommunikation und der Individualisierung von Schicksalen aber hat die Unkultur der Verantwortungslosigkeit ein erschreckendes Ausmaß angenommen.
Jugendliche Amokläufer können wohl nur von Gleichaltrigen entdeckt werden. Weil sich die Pubertierenden Eltern und Lehrern nicht mehr öffnen. Weil nur Jugendliche Zugang zu den Winkeln des Internets haben, in denen sich solche Taten ankündigen. Weil nur Jugendliche den zuweilen grenzenlosen Drang zur Selbstinszenierung verstehen können, der nicht nur die Kandidaten von "Deutschland sucht den Superstar" und "Germany’s next Top-Model" erfasst, sondern auch einige Verzweifelte, die ihren einzigen Ausweg in der Selbsttötung sehen.
Der Ruf nach einer neuen Werteordnung ist dabei so richtig wie wohlfeil. Der Ort, an dem Jugendliche auf ihre Verantwortung vorbereitet werden müssen, liegt - abgesehen vom Elternhaus - in der Schule. Wann versetzen wir unsere Schulen endlich in die Lage, die Kinder nicht nur auf den Kampf um die besten Abschlüsse und die begehrtesten Jobs vorzubereiten, sondern auch auf ein Leben in Gemeinschaft, die immer auch die Integration von Außenseitern bedingt?