Meinung Gräber verorten die Trauer
Meinung · Dass sich Bestattungsformen und -gepflogenheiten immer wieder ändern, ist normal. Aber da gibt es neben dem Trend zur Individualität auch eine andere Bewegung und die weist in Richtung Anonymität.
Dass sich Bestattungsformen und -gepflogenheiten immer wieder ändern, ist weder ungewöhnlich noch beängstigend, sondern schlicht normal. Es wäre auch verwunderlich gewesen, wenn das auf vielen Ebenen schon lange zu beobachtende Bedürfnis nach größerer Individualisierung nicht auch irgendwann auf den Friedhöfen angekommen wäre. Mit Verzögerung haben die Kommunen und Kirchen auf das Bedürfnis vielerorts inzwischen reagiert: Kolumbarien, Baumbestattungen, gar kommunale Friedwälder eröffnen eine größere Wahlmöglichkeit, und manche Friedhofssatzung wurde inzwischen von verstaubten Regularien befreit.
So weit, so gut. Aber da gibt es neben dem Trend zur Individualität auch eine andere Bewegung und die weist in Richtung Anonymität. Oft steht sie dabei in Verbindung mit einem Satz, der auch in ganz vielen Fällen geäußert wird, wenn es um die Entscheidung für eine Urnenbestattung geht: Man will den Angehörigen keine Arbeit machen und nach dem Tod nicht mehr zur Last fallen.
Nun mag der Gedanke, sich mit seiner Asche ohne Grab und Grabpflege wieder einzubetten in den Kreislauf der Natur, ja durchaus für Menschen etwas Tröstliches haben. Wenn aber stattdessen eher nüchtern-pragmatische Gründe den Ausschlag geben, kann dieser Entwicklung auch etwas Beklemmendes anhaften: weil der Tod plötzlich denselben Optimierungszwängen unterworfen scheint wie das Leben. Er verliert seinen innehaltenden Charakter.
Friedhöfe und Gräber haben, so starr sie auch mitunter wirken können, einen kulturellen Sinn. Sie schaffen Räume der Erinnerung und verorten die Trauer. Sie sind eine widerborstige Auszeit inmitten unserer Geschäftigkeit. Niemand muss das wollen. Aber jeder sollte sich zumindest bewusst sein, dass der Verzicht darauf auch das sein kann: ein Verlust über den Toten hinaus.