Meinung Insektenschwund - Echte Agrarwende steht auf der politischen Aufgabenliste
So schön ist unser Land. Und dann diese Nachricht: Es gibt 75 Prozent weniger Fluginsekten. Die deutsche Kulturlandschaft, sie ist in Wirklichkeit halbtot. Angezweifelt wird die Seriosität der Forschungsergebnisse nicht.
Aber hat die Botschaft auch das Gehirn erreicht? Es ist ja nur eine von vielen Informationen, die nicht nur die Deutschen überfordern. Genauso wie der Bericht, wonach weltweit Umwelteinflüsse für jeden sechsten Todesfall mitverantwortlich sind. Je wuchtiger solche Studien sind, umso weniger scheinen sie durchzuschlagen. So lange die negativen Folgen nicht individuell zu spüren sind wie bei Wirbelstürmen, Feuersbrünsten oder Flutkatastrophen, schiebt der Einzelne solche Erkenntnisse von sich. Kopf in den Sand. Insektenschwund? Da bleibt wenigstens die Windschutzscheibe sauber.
Die organisierten Lobbys setzen auf Verzögerung. Der erste Ruf gilt immer weiteren Studien. Die verlangt jetzt auch der Bauernverband und verweist darauf, dass die Insektenpopulation ja nur in Naturschutzgebieten gemessen wurde. Stimmt. Nur: Wenn es dort schon so schlimm ist, warum sollte es über den mit Insektiziden besprühten Feldern oder gar in den Städten besser sein? Es ist für die politische Reaktion ein Problem, dass Umweltveränderungen ein riesiges Schwungrad sind. Heute in Gang gesetzt, dreht es sich erst morgen und übermorgen schnell. Dann aber unaufhaltsam. In den Ökosystemen kann schon jede kleine Veränderung zu einer katastrophalen Kaskade führen. An den Fluginsekten hängt die Bestäubung vieler Pflanzen. Und es hängen an ihnen die Vögel. Schon wird auch bei deren Population ein ähnlicher Rückgang beobachtet.
Der Einzelne kann zwar seinen Lebensstil ändern, wird aber letztlich wenig bewirken. Die Gesellschaft insgesamt muss Vernunft aufbringen. Im aktuellen Fall heißt das: Wenn es noch Wissenslücken über das Insektensterben und seine Hintergründe gibt, dann müssen sie schnellstens geschlossen werden. Und wenn man dann mehr weiß, muss man handeln. Die Jamaika-Koalition hat ein neues Thema. Es muss ein Top-Thema sein. Eine echte Agrarwende steht ebenfalls auf der politischen Aufgabenliste. Denn die Agrarindustrie in Deutschland ist wegen der Überdüngung der Böden und Gewässer, wegen ihres Ressourcenverbrauchs und wegen der Massentierhaltung längst genauso zum Umweltproblem geworden wie Kohlekraftwerke, Autoverkehr oder Plastik.