Kommentar Organspende-Reform – Eine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen

Meinung | Berlin · Zwischen der Widerspruchs- und der Zustimmungslösung bestehen zwar fundamentale Gegensätze, man sollte sie aber auch im Nachhinein nicht aufbauschen zum moralischen Gegensatz zwischen Gut und Böse. Ein Kommentar.

 Werner Kolhoff.

Werner Kolhoff.

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Deutschland ist kein Land von Egoisten und Ignoranten, das das Problem von 10.000 verzweifelten Kranken nicht interessiert. Das nur noch kalt sagt: Lasst uns damit in Ruhe. Im Gegenteil. Einen Vormittag lang hat das Parlament am Donnerstag mit Leidenschaft darüber diskutiert, wie Sterbenskranken geholfen werden kann. Es wurden ergreifende Schicksale geschildert und große Fragen aufgeworfen. Von der Verantwortung des einzelnen für seine Mitmenschen, die über den Tod hinausreicht. Aber auch von der Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Und vom Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum.

Diese Debatte hat auch die Gesellschaft erreicht. Gut 85 Prozent der Menschen befürworten eine Organspende im Prinzip. Aber nur 30 Prozent haben einen Ausweis. Die meisten haben sich nicht entschieden, weder so noch so. Diese Menschen muss man behelligen. Die Widerspruchslösung wollte sie zwingen: Wer nicht ausdrücklich Nein sagt, hat Ja gesagt. Die Zustimmungslösung will die Zahl der Spender durch Aufklärung erhöhen. Und beide wollen endlich das schon lange überfällige Register schaffen, damit die Ärzte im Notfall schnell Gewissheit über die Entscheidung bekommen.

Das Votum gegen die Widerspruchslösung fiel deutlicher als erwartet aus und zeigt: Hierzulande stehen Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit in dieser Frage offenbar höher im Kurs als in anderen europäischen Ländern. Vielleicht aus historischen Gründen. Hierzulande ist auch das Misstrauen in den Staat und die Medizin größer. Die Transplantationsskandale vergangener Jahre haben dazu sicher beigetragen.

Es war eine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen. Kein Abgeordneter hat es sich leicht gemacht, das konnte man im Bundestag spüren. Fast alle Reden waren von hohem argumentativem Niveau. So eine offene Diskussion und Abstimmung ohne Fraktionszwang hätte man gerne öfter, auch in nicht-moralischen Fragen. Die Parteiführungen könnten die Politik dann zwar weniger steuern. Sie würde aber nicht schlechter. Um wie viel ernsthafter und intensiver würde dann zum Beispiel über den Einsatz deutscher Soldaten in Mali oder Afghanistan diskutiert werden. Das sind eigentlich auch Gewissensentscheidungen, die heute aber quasi nebenbei laufen.

Zwischen der Widerspruchs- und der Zustimmungslösung bestehen zwar fundamentale Gegensätze, man sollte sie aber auch im Nachhinein nicht aufbauschen zum moralischen Gegensatz zwischen Gut und Böse, hilfswillig oder egoistisch. Beide Seiten wollen das Gleiche: Mehr Leben retten. Dafür hat die nachgebesserte Zustimmungslösung nun eine zweite Chance bekommen. Jetzt gilt es, mit diesem Instrumentarium in der Praxis mehr Organspender zu gewinnen und das System der Transplantationsmedizin zu optimieren. Der unerträgliche Zustand muss beendet werden, dass jährlich rund tausend Menschen sterben, für die es bei besserer Organisation und Rechtslage Hilfe gegeben hätte. Das ist der Maßstab. Wenn sich das in fünf Jahren immer noch nicht verändert hat, wird man das Thema neu aufrufen müssen – und dann auch andere Mehrheiten finden.