Schwaches Parlament, schwacher Präsident
Diese Respektlosigkeit kann und wird sich das neu gewählte Europäische Parlament nicht gefallen lassen: Die Regierungschefs wollen mit aller Macht und in aller Eile José Manuel Barroso als neuen alten Kommissionspräsidenten durchsetzen, bevor jene, die Barroso wählen sollen, überhaupt zum ersten Mal zusammengekommen sind.
Mit Blick auf die EU-weit niedrige Beteiligung an der Europawahl dürfen es die Parlamentarier nicht zulassen, einmal mehr als willfährig vorgeführt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Barroso im Juli durchfällt, ist nicht gering, zumal die konservativ-bürgerliche EVP-Fraktion keine eigene Mehrheit hat.
Wenn es so kommt, wäre Barroso beschädigt, und seine politischen Freunde - allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy - wären bis auf die Knochen blamiert.
Das an sich könnte man mit Gleichmut zur Kenntnis nehmen, wenn es nicht ums große Ganze ginge. Denn eine handlungsunfähige EU-Kommission kann sich Europa nicht leisten, während der Wirtschaftskrise schon gar nicht.
Die Regierungschef sollten ein Einsehen haben und Druck aus der Sache herausnehmen. Barrosos Mandat geht bis November. Bis dahin dürfte klar sein, ob der Lissabon-Vertrag gilt, der dem Parlament mehr Rechte einräumt und neue Spitzen-Jobs schafft. Außerdem wäre Zeit, sich mit den politischen Leitlinien Barrosos auseinanderzusetzen, falls er welche hat. Das allerdings muss leider bezweifelt werden.
Die Überzeugungen des Portugiesen sind in etwa so beständig wie die Farben eines Chamäleons. Früher war Barroso Marxist, heute ist er ein Liberal-Konservativer. Erst war er Bush-Fan, jetzt findet er Obama klasse.
Er selbst bezeichnet sich als Realist, nicht als Visionär. Das klingt wie Alt-Kanzler Helmut Schmidt, der Leute mit Visionen am liebsten zum Arzt schicken würde. Nur: Hier geht es um Europa. Wo, bitteschön, könnte visionäre Politik gefragter sein als in einem riesigen Staatenbund, in dem es fortlaufend knarzt und knirscht?
Vielleicht ist es aber auch so, dass Merkel, Sarkozy und Co. weder einen starken Kommissionschef wollen noch ein starkes Europaparlament, damit ihre Regierungsgeschäfte nicht gestört werden. So gesehen, machen sie im Moment alles richtig.