Wahlpflicht in Deutschland: Die Bürger überzeugen, nicht zwingen!
Knöllchen für Nichtwähler sind keine Lösung.
Man kann die SPD ja verstehen. Die Union büßt fast sieben Prozentpunkte bei der Europawahl ein, die SPD nur 0,7. Trotzdem sind es die Sozialdemokraten, die als die großen Verlierer gelten. Sie haben die Erwartung enttäuscht, sich aus dem 20-Prozent-Loch zu befreien, während die Verluste für CDU und CSU schon eingepreist waren.
Aus SPD-Sicht ist das ein bisschen ungerecht, zumal die niedrige Wahlbeteiligung dem bürgerlichen Lager eher geholfen hat. Trotzdem sollte die Parteiführung jenen enttäuschten Hinterbänkler schnell wieder einfangen, der Nichtwähler wie Parksünder behandeln und ihnen ein saftiges Knöllchen verpassen möchte. Eine Wahlpflicht einzuführen, würde der Demokratie nicht nutzen, sondern schaden.
"Donkey vote" (Eselsstimme) nennt man im englischsprachigen Raum das Phänomen, wenn politisch uninteressierte Wähler dazu gezwungen werden, ihre Stimme nach dem Zufallsprinzip abzugeben. Man mag sich gar nicht vorstellen, wo auf dem rund ein Meter langen Wahlzettel am Sonntag überall die Kreuzchen gelandet wären. Wichtiger aber ist das Argument, dass eine Wahlpflicht einen Eingriff in Freiheitsrechte darstellt.
Schließlich kann die Nichtwahl auch eine bewusste politische Entscheidung sein, eine Unmutsäußerung, die weniger drastisch ausfällt als die Wahl radikaler Parteien. Daneben kann die Nichtwahl auch Ausdruck eines ungerichteten politischen Desinteresses sein. Muss dem Bürger nicht auch diese Freiheit zugestanden werden: die Freiheit, unpolitisch zu sein?
Eine geringe Wahlbeteiligung verringert immer auch die demokratische Legitimation des jeweiligen Parlaments. Das ist wahr. Aber Gleichgültigkeit, aus der Nicht-Teilnahme resultiert, muss noch lange nicht systemgefährdend sein. Bei großer Unzufriedenheit mit dem System würde die Wahlbeteiligung eher steigen; die Protestparteien an den Rändern würden davon profitieren, so wie 1994, als die deutsche Beteiligung an den Europawahlen bei 60 Prozent lag und die rechtsradikalen Republikaner fast vier Prozent der Stimmen erhielten.
Der SPD bleibt nichts anderes übrig, als alle Energie darauf zu verwenden, ihre Wählerklientel zu mobilisieren. Dann wird sie bei der Bundestagswahl auch ein besseres Ergebnis erzielen - ganz ohne jemanden zu zwingen.