Willich „Honig im Kopf“ reißt von den Stühlen
Die Tragikkomödie begeistert das Publikum bei den Schlossfestspielen in Neersen.
Neersen. Berührend. Bewegend. Dieses Stück lässt niemanden kalt. Die Rede ist von „Honig im Kopf“ bei den Schlossfestspielen Neersen. Wohl selten sind nach einer Premiere der Freilichtbühne die Besucher so schnell und so spontan aufgesprungen, um stehend dem gesamten Ensemble zu applaudieren. Alle waren begeistert von einer Inszenierung, die zu den besten zählt, die in den vergangenen 20 Jahren in Neersen zu sehen waren.
Woran liegt’s? Jedenfalls nicht allein an der Komik. Sicher, es wird vor allem im ersten Teil viel gelacht, so wenn der an Alzheimer erkrankte Amandus (bärenstark: R.A. Güther) mit Enkelin Tilda (ebenso gut: Maria Arnold als freche starke Göre) zum Ohrwurm „Du hast mich tausendmal belogen“ über die Bühne tanzt. Ein bedauerndes „Ohhhh“ erklingt im Publikum, als der Spaß vorbei ist. Lustig ist es auch, wenn Amandus Witze über Gurken und Nonnen erzählt — oder mit der Heckenschere ein Massaker in der Vorgarten-Vegetation anrichtet.
Doch die wahre Stärke der Inszenierung erwächst aus der Tragik. „Hast du auch geweint?“ Diese Frage ist am Ende der zweieinhalbstündigen Premiere (mit Pause) häufig zu hören. Und ebenso oft erzählen Besucher dann plötzlich von eigenen familiären Erfahrungen mit Alzheimer. Und das bei einem Thema, das im Alltag oft totgeschwiegen wird. Kann Theater mehr erreichen?
„Honig im Kopf“ zeigt, was alles geht bei ach so sommerleichten Festspielen. Unterhaltung? Ja, ja, ja — aber weit entfernt von oberflächlicher Beliebigkeit. Eine Meisterleistung. Sowohl von der Inszenierung her als auch von den Darstellern.
R. A. Güther und Maria Arnold zeigen ein ganz wunderbares, intimes Zusammenspiel. Die Nähe zueinander nimmt man ihnen jederzeit ab. Ebenso wie die Verzweiflung über die zunehmende eigene Vergesslichkeit — oder darüber, dass einen am Ende der eigene Opa nicht mehr erkennt.
Ebenso glaubhaft: René Hofschneider als Sohn Niko, der die Krankheit des Vaters anfangs weglachen, einfach nicht wahr haben will. Und Susanne Theil als Ehefrau Sarah, die darüber fast mehr verzweifelt als über das immer unberechenbarer Agieren des Schwiegervaters.
Das Vier-Personen-Stück — ergänzt durch eine murmelnde Hand und einen sprechenden Papagei — lässt einen im Laufe des Abends den überaus erfolgreichen Til-Schweiger-Film glatt vergessen. Mehr noch: Es zeigt, dass das Thema Alzheimer auch ohne große Showeffekte gleichermaßen unterhaltsam und ernsthaft erzählt werden kann. Diese Gratwanderung gelingt Regisseur Matthias Freihof ohne Wackler.
Er und Ausstatterin Silke von Patay entwerfen dabei wunderbare Bilder. Etwa wenn Amandus und Tilda gemeinsam im Koffer der Erinnerungen kramen und dabei Musik aus dem Italien der 60er Jahre erklingt. Oder wenn sich auf der Bühne parallel Opa und Enkelin bei einer Zugfahrt sowie Sohn und Ehefrau daheim über die gleiche Kindheitserinnerung unterhalten — und sich dabei fast tänzerisch-leicht ergänzen.
Es herrscht atemlose Stille, als in der beklemmenden Schlussszene die Scheinwerfer das Stück ganz auf Amandus und Tilda konzentrieren — und dann bricht nach dem letzten Satz der große Jubel los.
Fazit: Unbedingt ansehen!
www.festspiele-neersen.de