St. Tönis: Das Herz schlägt für beide?

Wie die Deutsch-Türkin Açelya Bakir das Halbfinale erlebte. Ein Bericht aus ihrer Familie.

St. Tönis. Puh, grade noch geschafft. Zehn vor neun ist es, als ich von der Uni nach Hause komme und da höre ich den Fernseher schon laufen. Mein Blick sucht die linke Ecke des Bildschirms und - Null zu Null, nichts passiert. Eigentlich bin ich ja kein großer Fußballfan und meine Mutter erst recht nicht, trotzdem sitzen wir jetzt zusammen auf der Couch.

Irgendwo klar, spielen doch Deutschland und die Türkei gegeneinander. Als Deutschtürkin oder Deutsche mit Migrationshintergrund (ich glaube, das ist die beliebteste Umschreibung zurzeit) muss man diese Partie ja gucken.

Mein Vater wird den Fernseher deshalb auch während seiner Arbeit anschalten. Er betreibt einen Imbiss in Mönchengladbach natürlich mit Döner, um das Türken-Klischee mal so richtig zu bedienen.

Im Deutschlandtrikot in einem Krefelder Café sitzt dafür mein Bruder. Schnell hat er sich noch eine türkische Flagge gekauft - quasi als farblichen Ausgleich. Für ihn war vor dem Spiel aber schon klar: "Eine meiner Lieblingsmannschaften schafft’s auf jeden Fall ins Finale!"

Schon ist es passiert! In der 22.Minute rollt der Ball in das Tor von Jens Lehmann: 0:1. Tja, was hält man nun davon? Bis jetzt hatte ich das gut verdrängt und im Tippspiel ganz diplomatisch auf Unentschieden gesetzt. Jetzt geht die Türkei in Führung. "Das erste Mal überhaupt in diesem Turnier", lässt der Kommentator mich wissen und da ertappe ich mich selbst dabei ein wenig hämisch zu grinsen. Ja, es tut schon gut, musste man sich doch vor dem Spiel immer wieder die selbstsicheren Prognosen anhören. 3:0 war da noch der zurückhaltendste Tipp.

Dann wird’s laut in der Nachbarschaft: Tor für Deutschland - der Befreiungsschrei nach nur vier Minuten. Naja, lag ich doch vielleicht ganz gut mit meinem Tipp.

Meine Mutter hat sich unterdessen schon abgemeldet. Die heutige Zeitung ist für sie interessanter. "Der Bessere soll gewinnen", hatte sie nur noch gesagt, bevor sie mit dem Kopf hinter dem Papier verschwand. Ein zugegeben zu oft bemühter Spruch. Aber er hat was. Ich stecke in einem ziemlichen Gewissenskonflikt. Ich lebe zwar in Deutschland, bin hier zu Hause, aber eine Bindung an die Türkei, Heimat der Eltern, bleibt doch.

Deshalb ist dieses Spiel auch anders. In der Magengegend spürt man die Anspannung, die unendlichen Bild- und Tonstörungen machen das Ganze nicht besser. Dann geht’s Schlag auf Schlag. Tor durch Klose, später Ausgleich durch Semih und am Ende sind’s nicht die Last-Minute Türken, sondern die Deutschen, die das Spiel für sich entscheiden.

Mit eigenen Mitteln geschlagen, nennt man das wohl. Ein wenig Wehmut schwingt bei aller Freude über unseren Einzug ins Finale dann schon mit.

Mein Vater äußert bei seiner Heimkehr ähnliche Gefühle: "Die Türken haben drei Mal Glück gehabt und jetzt eben die Deutschen. Aber gut gespielt haben wir trotzdem. Nur: Rüstü, ach Rüstü..."

Logisch: Auch am Morgen danach ist das Thema noch nicht durch. Die zwei Männer des Hauses, mein Vater und mein Bruder, diskutieren weiter über das Spiel. Eigentlich ganz praktisch, dieses "Zwei-Heimatländer-Haben", denke ich mir dabei. Da konnte man ja gar nicht verlieren.