250 Kilometer schlängelt sich der Altmühlradweg von Rothenburg ob der Tauber bis zur Donau. Jura für alle
Zwei Ratten und ein krächzender Rabe haben Jörg Christöphler seinen Job ermöglicht. Mit erkennbarer Dankbarkeit führt der Tourismusdirektor von Rothenburg ob der Tauber, der seine Visitenkarten zweisprachig – auch in Chinesisch – drucken lässt, Besucher deshalb gern ins Rothenburg-Museum.
Wer dort genau hinschaut, entdeckt die unheimlichen Tiere auf einem Ölgemälde von Arthur Wasse. Unter dem Titel „Es spukt“ hat der Brite das uralte Seitenportal des Rothenburger Rathauses auf der Leinwand ins Dämmerlicht getaucht. Unter der Treppe huschen die Ratten durchs welke Laub. Der Rabe sitzt auf einem Mauersims. Ein perfektes Bild für Wasses in Schauergeschichten vernarrte Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts. Hunderte kamen daraufhin aus aller Welt in die abgelegene Ackerbürgerstadt im äußersten Nordzipfel Bayerns.
Das kleine Rothenburg, abgehängt von der Industrialisierung, wurde bald einer der bekanntesten Orte in Deutschland. Maler malten es, auf der Weltausstellung 1893 in Chicago warb eine Kopie des Rathauses für Deutschland und Walt Disney nutzte die ganze Stadt 1940 als Kulisse für „Pinocchio“ – kurzerhand disloziert in die Alpen.
Knapp zwei Millionen Touristen kamen im Jahr 2019
„Rothenburgisch ist ein Synonym für malerisch“, sagt Kunsthistoriker Christöphler, auch wenn die Gäste heute statt des dunklen Rathausdurchgangs die bunten Fassaden mit den 400 gusseisernen Werbeauslegern und vor allem das Plönlein mit dem Siebers-
turm und dem Kobolzeller Tor fotografieren. Leuchtreklame ist in der Stadt verboten. Gewisse Tendenzen zum Kitsch räumt man augenzwinkernd auch im Museum ein. Besucher können auf einer Holzbank auf Kunstrasen Selfies vor einem Stadtpanorama schießen.
1,9 Millionen Tagesgäste polierten 2019 mit ihren Gummisohlen das Pflaster der Altstadtgassen. 590 000 Übernachtungen zählten die Hoteliers. Und man hat viel dafür getan, der internationalen Klientel zu gefallen. Der „Rosenpavillion“ am großen Marktplatz verkauft Töpfe von Fissler, Messer von Zwilling und Koffer von Rimowa. Vor dem „Deutschen Weihnachtsmuseum“ stehen selbst im Hochsommer Schlangen. Überall gibt es Bratwurst und Bier, aber auch guten Wein. Und das „Reichsstadtmuseum“ hat man kürzlich in Rothenburg-Museum umbenannt. Zu viele Amerikaner hätten enttäuscht gefragt, wo denn nun etwas von Hitler zu sehen sei.
2020 ist alles anders. Ohne Gäste aus Übersee und abseits der deutschen Urlaubs-Hochburgen an der See und in den Alpen laden Rothenburg und die Täler von Tauber und Altmühl vor allem Radfahrer und Kulturwanderer zu Erkundungstouren ein. Rothenburg zeigt sich in diesem Jahr regelrecht intim: Zwei Dutzend der noch 2500 Altstadtbewohner öffnen angemeldeten Gästen ihre Gärten. Darunter ist auch Hilde Kistenfeger. In ihrem Idyll blühen mehr als 100 Rosen, schätzt sie. Dazu grünen Pfingstrosen und Wildkräuter so schön wie selten. „Durch den Lockdown hatte ich noch mehr Zeit für Gartenarbeit als sonst“, sagt die Besitzerin strahlend. „Auch wenn es sich in den Hauptgassen wieder füllt, gibt es überall Rückzugsräume“, wirbt Jörg Christöphler schon mal für die Zeit nach der Pandemie.
Und rings um die Stadt lockt üppige Natur. Durchs Kobelzeller Tor rollt man hinab ins Tal der Tauber mit seinen historischen Mühlen. Einer der bewährtesten Fernradwege Deutschlands startet hier und will neu entdeckt werden. In drei bis fünf Etappen führt der Altmühlweg bis zur Donau kurz vor Regensburg. Zuerst geht es durch den schattigen Taubergrund, dann über die flache Frankenhöhe zur Altmühl. Spätestens in Gunzenhausen lohnt sich nach 60 Kilometern ein erster Halt. Hunderte bunter Sonnenschirme wiegen sich hoch über den Köpfen der Flaneure in den Hauptstraßen zwischen den properen Fachwerkfassaden im Wind. Auf mehreren Dächern klappert ein Storch.
Die Altmühl ist dort noch schmal, das Terrain ziemlich flach. Das ändert sich nun rasch. 40 Kilometer weiter ragen vor Solnhofen linkerhand die Zwölf Apostel in den Himmel, markante weiße Felsnasen am Talrand, die Schwindelfreien als Posing-Spot dienen. Immer tiefer frisst sich der Fluss auf der weiteren Strecke in das 150 Millionen Jahre alte Kalkgebirge. Und öffnet damit einen Blick in die Erdgeschichte. Auf der Willibaldsburg in Eichstätt sind im jüngst wieder eröffneten Jura-Museum viele der Schätze zu sehen, die aufmerksame Steinbrucharbeiter aus dem Plattenkalk geborgen haben. Fische vor allem, aber auch alle sieben Exemplare des gefiederten Archaeopteryx – ein Mischwesen aus Saurier und Vogel.
Mit Hammer und Meißel
in den Steinbruch
Während die Plattenkalk-Industrie rund um Eichstätt und Solnhofen wegen täuschend echter chinesischer Kopien ebenso auszusterben droht wie einst die Dinosaurier, kommen Hobby-Hauer mit Hammer und Meißel im Blumenberg-Steinbruch von Georg Bergér auf ihre Kosten. Vor Jahrzehnten hat der Unternehmer die Grube für Sammler geöffnet. „Mehr als 800 verschiedene Tiere wurden hier schon gefunden“, sagt Bergér. Darunter waren mannshohe Ammoniten, Libellen groß wie eine moderne Flugdrohne und sogar ein Fischsaurier.
Für die Holotypen, also die Beschreibungsexemplare neuer Arten, von seinem Grund hat Bergér in seinem Privatmuseum eine eigene Schatzkammer eingerichtet. Wenigstens ein paar Schlangensterne finde eigentlich jeder, sagt der Besitzer. Und dürfe die auch behalten. Vor allem Kinder sind begeistert.
Einen ausgedehnten Blick noch auf die Pracht der Bischofsstadt Eichstätt mit ihrem barocken Bauensemble. Dann geht es weiter ostwärts. Das bunte Riedenburg lohnt einen Halt und die Burg Prunn der Herren von Laaber vier Kilometer weiter den steilen Aufstieg. Eine Handschrift des Nibelungenliedes wurde dort entdeckt.
Vor allem aber gefällt der Blick hinab vom Kalkfelsen auf die Flussschleife der Altmühl. Franz-Joseph Strauß sah den Fluss als belebte Schifffahrtsstraße zwischen Main und Donau und ließ ihn für viele Millionen ausbauen. Obgleich jetzt Kanal hat man ihm aber ein weitgehend natürliches Gesicht gelassen.
Auf dem Tatzelwurm
über den Fluss
Am spektakulärsten ist die Gegend um den Marktflecken Essing. In zwei eleganten Schwüngen gelangen Radler und Fußgänger auf dem Tatzelwurm – der zweitlängsten Holzbrücke Europas – über den Fluss. Dahinter duckt sich der Ort unter eine mächtige Steilwand. Dort betreibt Matthias Schneider seinen Brauereigasthof. Die blitzenden Stahltanks stehen gleich in der Rezeption. Wer mag, der kann einen halben Tag lang Gerste schaufeln und das Brauerhandwerk lernen.
Beschwingt geht es anschließend das letzte Stück bis nach Kelheim, wo die Altmühl in die Donau mündet. Krönender Abschluss ist von hier eine kurze Schiffspartie zum Donaudurchbruch bei Weltenburg. Einst habe die Donau das Bett mit der Altmühl geteilt, lernt man dabei. Doch in der Eiszeit nutzte sie den von anderen Flüssen geschaffenen Durchlass im Jurakalk und nahm ihren eigenen Lauf.
Von der Reling aus blickt man zu 80 Meter hohen Wänden mit vielen Klüften und Spalten hinauf, in deren einst christliche Einsiedler hausten. Seit 1300 Jahren leben Mönche aus dem Benediktiner-Orden im monumentalen Kloster Weltenburg gleich hinter der Engstelle. Die Kirche wartet mit barocker Pracht auf, der klostereigene Biergarten mit frisch Gezapftem. Mindestens seit 1050 wird dort nachweislich gebraut. Da sollte man es sich schon allein aus historischem Interesse schmecken lassen.
Der Autor reiste mit Unterstützung von Franken Tourismus.