Europa funktioniert nur mit Leidenschaft

Man war schon versucht, die kurze Herrschaft der Zwillinge als Treppenwitz der Geschichte abzuhaken, da meldet sich einer der Brüder auf Europas Bühne zurück: Polens Präsident Lech Kaczynski blockiert den EU-Reformvertrag und stellt das Projekt damit mehr denn je in Frage.

Beim "Nein" des Präsidenten handelt es sich allerdings nicht allein um einen Kniefall vor den ultrakonservativen Kräften im Land. Es geht ihm auch um eine persönliche Abrechnung mit Angela Merkel, die den Vertrag als Ratspräsidentin beim EU-Gipfel vor einem Jahr durchboxte und den Widerstand der Zwillinge ins Nichts laufen ließ.

Paradox: Während Polens Regierung und weite Teile der Bevölkerung das Reformwerk ohne Wenn und Aber unterstützen, stellt sich der politisch isolierte Präsident quer. Tatsächlich finden die meisten Polen ihren Präsidenten peinlich; sie wollen in einem liberalen Staat leben, der sich Europa öffnet.

Dass sich Kaczynski dennoch durchsetzt, bleibt aber typisch für die Tragik des Reformprozesses, nicht nur in Polen. Die Mehrheit steht zwar durchaus hinter der europäischen Idee, doch fehlt ihr die leidenschaftliche Entschlossenheit, um die Bremser, Blockierer und Angstmacher in ihre Schranken zu verweisen. Die Mehrheit tut das, was die Minderheit verlangt: Sie schweigt.

Dass so wenig Leidenschaft für Europa aufkommt, liegt allerdings nicht am Naturell seiner Bürger, sondern wesentlich am Erscheinungsbild einer farblosen EU. Es fängt damit an, dass Brüssel vor allem als bürokratischer Koloss in Erscheinung tritt, der kulturelle Eigenarten verschlingt. Und es endet damit, dass sich der Vertrag von Lissabon nicht wie eine Verfassung für Bürger liest, sondern wie die monströse Bedienungsanleitung für einen Gabelstapler.

Wo ist sie, die europäische Öffentlichkeit? Wer fühlt Europa? Politiker mögen noch so sehr hervorheben, dass nur ein vereinter Kontinent seine Stärke im Wettbewerb mit den Großen dieser Welt zur Geltung bringt: Solange Europas Seele in einem Wust von Verordnungen untergeht, solange nicht die Leidenschaft der Mehrheit über die kleinkarierten Egoismen einer Minderheit siegt, werden wir uns von den Kaczynskis und anderen Querköpfen am Nasenring herumführen lassen müssen.