Verkrampftes Geschichtsbewusstsein

Es sieht so aus, als bräuchte es weitere 60 Jahre, bis wir in der Lage sind, unverkrampfter mit der jüngeren deutschen Geschichte umzugehen.

Der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden und der Vernichtungskrieg in Osteuropa überstrahlen unser Geschichtsbewusstsein derart, dass differenzierte zeitgeschichtliche Betrachtungen noch immer kaum möglich sind.

Auch wenn der Streit um eine Kollektivschuld zugunsten einer kollektiven Verantwortung des Erinnerns überwunden ist, wird in jeder Debatte die Hitlerkeule geschwungen, sobald auch nur entferntere Bezüge gegeben oder zu konstruieren sind.

Dieses Schicksal begleitet öffentliche Gelöbnisse von Bundeswehrrekruten seit Gründung der Streitkräfte - obwohl die Soldaten gerade auf die Verteidigung des freiheitlichen Rechtsstaates verpflichtet werden. Glaubwürdige Pazifisten mögen sich an diesem militärischen Ritual reiben. Gewaltbereite Autonome, die die Gelöbnisse zu sprengen versuchen, verdienen dagegen nicht den Hauch von Verständnis.

Umso wichtiger, dass sich die Spitzenpolitiker der Bundesregierung, Angela Merkel und ihr Vizekanzler Steinmeier, spät, aber nicht zu spät zur Teilnahme an dem Gelöbnis aus Anlass des Gedenktags zum Hitler-Attentat entschlossen haben.

Geradezu skurille Züge trägt dagegen die Debatte um den Auftritt des US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama an der Berliner Siegessäule.

Nachdem schon die Kanzlerin mit dem von ihr verhängten Redeverbot vor dem Brandenburger Tor die Grenze international vermittelbarer Selbstbespiegelung gesucht hat, kommen nun Politiker aus der zweiten und dritten Reihe, um über die fragwürdige Bedeutung der "Goldelse" zu sinnieren - wie die Berliner in entwaffnender Weise die Siegesgöttin Viktoria getauft haben.

Nur weil die Nationalsozialisten dieses preußische Denkmal vom ehemaligen Königsplatz in den Berliner Tiergarten verpflanzt haben, ist der Ort für Obama ebenso wenig tabu wie in vergangenen Jahren für die Loveparade oder die WM-Fanmeile.

Die deutsche Demokratie ist ohne ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein nicht denkbar. Wir sollten aber die Zahl der Fehldeutungen, mit denen wir uns lächerlich machen, deutlich reduzieren.