Meinung Das Karadzic-Urteil: Wie groß ist der Sieg wirklich?
Natürlich würde man gern einstimmen in den Chor der Kommentatoren, die das Urteil des UN-Kriegsverbrechertribunals gegen den ehemaligen bosnischen Serbenführer Radovan Karadizc als großen Sieg des Völkerrechts feiern.
40 Jahre Haft, schuldig gesprochen in zehn von elf Anklagepunkten, voll verantwortlich für den Völkermord in Srebrenica im Juli 1995, der mit mehr als 8000 ermordeten muslimischen Bosniern als das bislang schlimmste Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg gilt — ist das nicht ein klares Zeichen an alle heute aktiven Potentaten und Menschenschinder, dass es für sie auf Dauer kein Entkommen vor der Gerechtigkeit gibt? Dass eben nicht die Kleinen gehängt und die Großen laufengelassen werden? Schön wär’s.
Bei etlichen bosnischen Muslimen löst das Urteil nicht Genugtuung, sondern Bitterkeit aus: Nur 40 Jahre? Warum nur für Srebrenica und nichts für die vielen anderen Morde, die der verbrecherische Psychiater und Möchtegern-Poet eiskalt plante?
Auf serbischer Seite bewirkte das Urteil (auch) Trotz- und Abwehrreaktionen. Milorad Dodik, als Präsident der bosnisch-herzegowinischen Teilrepublik Srpsk, taufte als Nachfolger des Verurteilten noch am vergangenen Wochenende in der Stadt Pale ein Studentenwohnheim auf den Namen von Radovan Karadzic. Wie anders denn als Fortsetzung der Leugnung des Völkermords sollen bosnische Muslime das verstehen?
Genau beobachten muss die EU die Reaktionen des serbischen Ministerpräsidenten Aleksandar Vucic, der einst an der Spitze einer Bewegung stand, die das UN-Tribunal gegen Karadzic verhindern wollte. In der kommenden Woche wird das Haager Gericht (wahrscheinlich) das zweite wichtige Urteil sprechen, diesmal über Vojislav Seselj.
Auch Seselj ist wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt. Nach einer wirren Prozessgeschichte befindet er sich auf freiem Fuß und tritt als Spitzenkandidat der radikalen Serben bei den serbischen Parlamentswahlen im April an. Seselj ist der politische Ziehvater von Ministerpräsident Vucic — der sein Land eigentlich in die Europäische Union führen will.
Das Karadizc-Urteil mag (trotz der eingelegten Berufung) ein wichtiges Signal sein. Zur Befriedung zwischen den Volksgruppen des ehemaligen Jugoslawien trägt es nicht bei, sondern reißt alte Wunden und unverarbeitete Konflikte wieder auf.