Meinung Wie wir aufhören können, Terroristen zu züchten

Als die Selbstmordattentäter am Dienstag in der Brüsseler Metro-Station Maelbeek und am Flughafen Zaventem ihre Sprengsätze zündeten, saß der Wuppertaler und Solinger Landtagsabgeordnete Josef Neumann (SPD) zusammen mit seinem niederländischen Kollegen Bert Bouwmeester im „Kongress der Gemeinden und Regionen Europas“ beim Europarat in Straßburg, um über Maßnahmen zur Bekämpfung von Radikalisierung an der Basis zu debattieren.

Ulli Tückmantel.

Dabei ging es um einen praxisorientierten Maßnahmenkatalog (genannt „Tool-Kit“), der im Nachgang zu den Charlie-Hebdo-Anschlägen vom Januar 2015 entwickelt wurde. Nichts hätte brutaler und grausamer zeigen können, wie dringend nötig solche Strategien sind, als die zeitgleichen Brüsseler Attentate.

Dass die aktuellen Diskussionen sich weiter auf die Trauer um die Getöteten und auf die Tathergänge sowie die Folgerungen für die internationale Terrorabwehr konzentrieren, ist nicht nur verständlich, sondern dringend nötig. Den belgischen Behörden war bekannt, dass aus dem islamistischen Milieu heraus nach der Festnahme des mutmaßlichen Top-Terroristen Salah Abdeslam neue Terrorakte drohten. Dass die Attentäter trotzdem mit Gürteln und Koffern voll Sprengstoff unbehelligt durch den Hauptstadt-Flughafen und eine zentrale Metro-Station spazieren konnten, ist einigermaßen unbegreiflich. Daher ist auch die Diskussion berechtigt und nötig, wie und in welchem Umfang anschlagsgefährdete öffentliche Plätze und Orte künftig geschützt werden müssen.

Mindestens so wichtig wie der Schutz gegen Anschläge ist jedoch das weitaus mühseligere und langwierige Geschäft, die Fortsetzung der gewalttätigen religiösen Radikalisierung zu stoppen. Dazu gehört die Einsicht, dass die westliche Erzählung des „Kriegs gegen den Terror“ nach dem 11. September einer absichtlichen Selbsttäuschung unterlag: Um Militäraktionen gegen eine weit entfernte „Achse des Bösen“ rechtfertigen zu können, erklärte sie den Terrorismus und die Terroristen zu etwas Fremdem, zu einer Import-Erscheinung, die nichts mit „uns“ zu tun und die wir uns eingefangen haben wie einen Schnupfen.

Der dabei unterschlagene Teil der Wahrheit ist, dass wir zugelassen haben, dass die gewalttätige religiöse Radikalisierung etlicher Terroristen und Terrorhelfer nicht im Nahen Osten, sondern in europäischen Städten stattgefunden hat und weiter stattfindet. Und dass die Radikalisierung in Dinslaken-Lohberg und den Hinterhof-Moscheen Solingens und Wuppertals nicht durch Tornado-Einsätze über Syrien zu beenden ist. Nach Erkenntnissen des Bundesinnenministeriums sind seit 2012 rund 800 Islamisten aus Deutschland Richtung Syrien und Irak gereist, um sich dem IS oder anderen terroristischen Gruppierungen anzuschließen.

Ihre Radikalisierung fand in Deutschland statt, genau wie die Radikalisierung der Brüsseler Mörder in Belgien stattfand. Thomas Kron und Pascal Berger, Soziologen der RWTH Aachen, beschreiben in der aktuellen Ausgabe des wiederbelebten „Kursbuch“ (früher Suhrkamp, jetzt Murmann-Verlag), dass das „Fremde“ des Terrorismus in seiner Entstehung geradezu Nähe voraussetzt: Etliche Anschläge seit dem 11. September zeigten, „dass die Terroristen nah und fern zugleich sind: Sie sind nah, weil sie im Anschlagsland aufgewachsen und habituell nicht von anderen Bürgern unterscheidbar sind. Sie studieren, arbeiten und leben vorgeblich ein normales, zum Beispiel westlich geprägtes Leben. Zugleich sind sie fern, weil sie sich selbst nicht als Teil dieser modernen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sehr wohl aber als Teil einer anderen, dichotom organisierten Form zugehörig begreifen: der der Gläubigen, die sich den Ungläubigen gegenübersehen“.

Beide Seiten, so Kron und Berger, leugneten die Nähe, welche Anknüpfungspunkt für eine friedliche Koexistenz sein könnte. Genau dort, in der Förderung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs, setzt der von Neumann und Bouwmeester vorgestellte Maßnahmen-Katalog an. Die Abgeordneten kommen zu dem Schluss, dass es dazu einer Neuausrichtung bedarf: „Bisher richteten wir unseren Blick vom Zentrum hin zu den Rändern, von der Mehrheit hin zu den Minderheiten. Für die Zukunft empfehlen wir indessen den Ansatz bei den Minderheiten, um so auf Grundlage eines Grundwissens über kulturelle Vielfalt das Verständnis für das Fundament der Mehrheitskultur zu fördern.“

Das Bundesinnenministerium geht von 400 islamistischen „Gefährdern“ in Deutschland aus. Zwei Dinge kann eine offene Gesellschaft, die offenbleiben will, nicht brauchen: Sie kann nicht die Umstände ignorieren, unter denen sie Radikalisierungen bis hin zum Terrorismus selbst Vorschub leistet. Und sie darf rechtspopulistischen Hetzern nicht erlauben, die Gesellschaft weiter zu spalten.