Ein System aus Missverständnissen

Ein Berater, der einer 91-Jährigen Lehman-Zertifikate andreht und zusätzlich noch eine Privatrente aufschwatzt, die sie im Alter von 159 Jahren beziehen würde - das ist in der Tat der Gipfel der Dreistigkeit.

Aber ein solcher Fall ist zu absurd, um exemplarisch zu sein. Nein, der durchschnittliche Bankberater brennt nicht darauf, Menschen auszuplündern. Aber er ist Gefangener eines Systems, das Missverständnisse provoziert.

Wer in einer Sparkasse, Volksbank oder Privatbank mit Kleinanlegern über Vermögensstrategien spricht, der führt kein Beratungsgespräch. Der führt schlicht ein Verkaufsgespräch.

Vielen Kunden ist nicht bewusst, dass ihr Gegenüber unter enormem Druck steht, nicht nur, weil erfolgreiche Überredungskunst mit Provisionen belohnt wird. Ihr Gegenüber steht auch deshalb unter Druck, weil sein Unternehmen von ihm verlangt, Sparer in immer neue, hauseigene Anlagen hineinzutreiben.

Erst ein Blick ins Kleingedruckte zeigt, dass die vermeintliche Gratis-Beratung versteckte Kosten in Form von Ausgabeaufschlägen und Rückvergütungen enthält - und dass Wertpapiere, die mehr Rendite bringen als Sparbücher, nun einmal Risiken und Nebenwirkungen haben.

Dass diese Rollenzwänge vielen Kunden noch immer nicht bewusst sind, hat historische Ursachen: Traditionell war in Deutschland das Verhältnis zwischen dem Anleger und seinem "Bankbeamten" ein besonderes, vergleichbar dem von Arzt und Patient. Diesem Mythos von der Vertrauensperson heute noch anzuhängen, ist jedoch naiv.

Schon nach dem Platzen der New-Economy-Blase standen die Verkäufer der Geldinstitute zwar am Pranger. Dann aber kehrten sie zum Alltag zurück, so als hätten nicht Millionen gutgläubige Kleinanleger durch sie viel Geld verloren.

Beim aktuellen Desaster hingegen bleibt diese Vertrauensbasis nachhaltig ruiniert; das ganze System der Bankberatung steht zur Disposition: Die Banken müssen begreifen, dass sie Vertrauen nur durch Seriosität zurückgewinnen können. Die Anleger müssen lernen, dass sie unabhängige Beratung nur bei unabhängigen Experten erhalten. Und die Politik muss einsehen, dass sie die Verbraucherzentralen und ihre Finanzberatung nicht länger kaputtsparen darf.